Ein Massengrab am Straßenrand
8. Mai 2019Es ist ein Tag, den Jutta Höhn so schnell nicht vergessen wird. Eigentlich wollte ihr Sohn nur einen Parkplatz vor dem Haus bauen - in Klessin, einem kleinen Dorf an der Oder, nicht weit von der Grenze zu Polen. Doch als ihr Sohn die Erde vor dem Haus abtrug, stieß er zuerst auf Munition aus dem Zweiten Weltkrieg, dann auf Knochen. Nun steht Jutta Höhn an ihrem Gartenzaun und schaut hinunter in eine Grube, in der die Gebeine von acht gefallenen Soldaten liegen. Schädel, Knochen, die Reste von Helmen und Stiefeln sind deutlich zu erkennen. "So viele", sagt sie mit überraschtem Gesicht, "wer hätte denn damit gerechnet?"
Seit 1945 im Boden
Unten in der Grube beugt sich Werner Schulz über die Gebeine, bürstet vorsichtig Erde von einem Knochen. Sein orangefarbener Arbeitsanzug leuchtet aus dem braunen Erdreich hervor. Schulz ist Grabungstechniker beim "Verein zur Bergung Gefallener in Osteuropa" (VBGO), sorgfältig dokumentiert er den Fund. "Es sind deutsche Soldaten, das sehe ich an den Helmen und den Erkennungsmarken."
Über der Grube schwebt sirrend eine Fotodrohne des Vereins, die den Fundort ablichtet. Der wird immer größer: Einige Meter weiter stößt das Grabungs-Team auf vier weitere Gefallene - auch sie liegen zwischen dem Haus der Familie Höhn und der Dorfstraße. Aus der Erde holen die Freiwilligen neben Erkennungsmarken auch Ehe- und Siegelringe, die für die Identifizierung der Toten von großem Wert sind.
Schwere Kämpfe im letzten Kriegsjahr
Wie viele Tote in und rund um Klessin noch im Boden liegen, weiß niemand ganz genau. Hier setzten im Winter 1945 Soldaten der Roten Armee über den nahe gelegenen Fluss Oder, um auf die Reichshauptstadt Berlin vorzurücken. Die Wehrmacht stellte sich ihnen entgegen, es kam zu wochenlangen erbitterten Kämpfen. An keinem anderen Ort wurde so lange gekämpft wie in Klessin. Im Schloss leisteten deutsche Soldaten mit wachsender Verzweiflung Widerstand, bis sie schließlich von der Roten Armee bezwungen wurden. "Fällt Klessin, fällt Berlin", lautete die sinnlose Durchhalte-Parole der Wehrmachts-Führung. Vom Schloss blieben am Ende nur Trümmer übrig, das Dorf wurde vollständig zerstört. Die Gefallenen beider Armeen blieben in den Schützengräben oder auf dem winterlichen Boden liegen, manche wurden notdürftig verscharrt. Wo einst das Schloss stand, wachsen heute Gras und Bäume. Anwohner wollen eine Gedenkstätte auf dem Areal errichten.
Im Krieg verschollen
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs warteten viele Angehörige vergeblich auf Nachricht von ihren Söhnen, Vätern oder Brüdern, die im Oderbruch gekämpft hatten. Dass heute einige Schicksale doch noch geklärt werden können, ist dem "Verein zur Bergung Gefallener in Osteuropa" zu verdanken. Seit 2009 suchen Freiwillige das Areal systematisch nach Gefallenen ab, mit einem kleinen Bagger, Schaufeln und Sonden. Zweimal im Jahr graben sie für jeweils eine Woche - etwa dort, wo während der Kämpfe Schützengräben verliefen. "Wir haben schon sehr, sehr viel Erde und viele Kilometer an Gräben geöffnet", sagt Albrecht Laue, der den Sucheinsatz koordiniert. "Bis dato haben wir um die 120 deutsche und um die 100 sowjetische Soldaten gefunden."
"Dienst an den Lebenden"
Berichte von Zeitzeugen und Historikern, aber auch alte Luftaufnahmen geben Hinweise auf mögliche Grablagen. Auch vor dem Haus von Jutta Höhn war eine solche "verdächtige" Stelle: Etwa ein Jahr nach Kriegsende hatte ein Pastor aus der Gegend Klessin besucht und Gräber unbekannter Soldaten gesehen, deren Lage er in einem Brief skizzierte. "Klessin ist völlig zerstört", hatte der Pastor vermerkt und gewarnt: "Das Gelände ist nach wie vor stark vermint."
Eine Kopie des Briefs, den der Pastor damals schrieb, hält Albrecht Laue heute in den Händen. Für ihn ist die Suche nach den Toten "ein Dienst an den Lebenden", die endlich Klarheit bekommen wollen über das Schicksal ihrer Angehörigen. Auch heute noch, 74 Jahre nach Kriegsende.
Ursprünglich wollte Laue nur das Schicksal seines eigenen Großvaters aufklären, der in Russland gefallen ist. Heute leitet der 45-jährige Hamburger den Verein, der international vernetzt ist. Bei den Sucheinsätzen helfen regelmäßig Freiwillige aus Russland, Polen und vielen anderen Ländern mit. "Wenn wir das nicht machen, wer dann?", fragt der Moskauer Anton Togashow, der mit dem Auto die weite Strecke nach Klessin gefahren ist, um bei der Suche dabei zu sein. "Wir müssen uns darum kümmern, das ist mir eine Herzensangelegenheit."
Würden die Mitglieder des Vereins nicht nach ihnen suchen, blieben die Toten vermutlich für immer im Boden des Oderbruchs liegen. "Über die Jahre haben wir festgestellt", erzählt Albrecht Laue, "dass hier ein riesiger Bedarf an Arbeit ist. Und dass es eigentlich niemanden in der Region gibt, der das sonst machen kann in dieser Art und in diesem Ausmaß".
Angehörige warten immer noch
Wie groß das Ausmaß der Arbeit ist, wird in einer kleinen Halle in der Nähe der Grabungsstellen klar. Hier ordnet Lara Indra die Knochen, die im Massengrab neben der Straße gefunden wurden. Auch die Schweizerin investiert ihren Urlaub, um in Klessin mitzuhelfen. Soweit es möglich ist, setzt die 23-jährige Anthropologin die Skelette wieder zusammen, bestimmt das Geschlecht und das ungefähre Alter der Toten, dokumentiert Verletzungen. All diese Angaben können helfen, einen Toten zu identifizieren. "Viele der Nachfahren dieser Gefallenen leben noch und wollen wissen, was mit ihnen passiert ist - das hat für mich Sinn und ist befriedigend."
Letzte Ruhe in Würde
Die Dokumentation aller Funde schickt der Verein ans Bundesarchiv in Berlin, das die Vermisstenlisten aus dem Zweiten Weltkrieg führt und die Angehörigen bei Bedarf informieren kann. Diesmal haben die Vereinsmitglieder 15 deutsche und einen russischen Soldaten in Klessin geborgen. Nicht immer gelingt es, die Identität der Toten festzustellen. Aber alle Gefallenen werden am Ende auf nahe gelegenen Soldatenfriedhöfen würdevoll bestattet.