Benjamin Netanjahu bei Olaf Scholz: Treffen in Krisenzeiten
16. März 2023Eigentlich war es nur ein Jubiläums-Empfang. Doch bei seiner Ansprache zum 50. Jahrestag der Gründung der israelischen Universität Haifa wurde Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Ende voriger Woche in seinem Berliner Amtssitz Schloss Bellevue ausgesprochen politisch. Ungewöhnlich für das Staatsoberhaupt. Steinmeier schaute kritisch nach Israel und auf die innenpolitische Entwicklung des Landes.
Der Bundespräsident zeigte sich besorgt über die "Eskalation von Hass und Gewalt" während der vergangenen Wochen und Monate und den von der israelischen Regierung "geplanten Umbau des Rechtsstaates". Die Deutschen hätten "immer mit großer Bewunderung auf den starken und lebendigen Rechtsstaat in Israel geschaut. Gerade weil wir wissen, wie notwendig dieser starke und lebendige Rechtsstaat in der Region ist." So Frank-Walter Steinmeier, der von 2005 bis 2009 und von 2013 bis 2017 deutscher Außenminister war.
Da sprang ein Staatsoberhaupt, so wirkte es, einem anderen Staatsoberhaupt zur Seite. Steinmeier machte das dann auch deutlich: Er sei "in regelmäßigem Austausch mit meinem Freund und Amtskollegen Isaac Herzog" und setze auf dessen "kluge und ausgleichende Stimme in der israelischen Debatte". Der 62-jährige Herzog, seit Mitte 2021 Präsident seines Landes, ist der wichtigste Mahner gegenüber der Netanjahu-Regierung und steht damit selbst unter Druck.
Umstrittene Justizreform
Denn das Vorhaben einer umfassenden Justizreform seitens der ultrarechten Netanjahu-Regierung würde den demokratischen Rahmen des Staates verändern. Die Pläne sehen vor, dass die Knesset, das israelische Parlament, Entscheidungen des obersten Gerichts durch eine einfache Mehrheit überstimmen könnte. Zum Teil beriet die Knesset die Gesetzesänderungen schon in erster Lesung.
So deutliche öffentliche Kritik an der israelischen Innenpolitik gab es noch nie von einem deutschen Staatsoberhaupt. Gewiss, in der Schlussphase der Amtszeit von Mosche Katzav, Israels Präsident von 2000 bis 2007, bis er angesichts einer Anklage wegen sexueller Übergriffe zurücktrat, verzichtete man von deutscher Seite auf eine Reise nach Jerusalem. Aber öffentlich war Kritik an israelischer Innenpolitik selten, auch dann, wenn man sich zur Besatzung der Palästinensergebiete äußerte.
Denn das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel ist von besonderer Art. Es wird immer geprägt bleiben von der Schoah, dem Massenmord von Nazi-Deutschland an sechs Millionen Juden. Dabei hat sich das Verhältnis seit 1965, dem Jahr der Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern, beeindruckend entwickelt. Jüngstes Beispiel ist ein deutsch-israelisches Jugendwerk, das im Spätsommer 2022 beschlossen wurde.
Eine frühe Freundschaft
Für die frühzeitige Aussöhnung steht vor allem David Ben-Gurion (1886-1973). Früh stritt der legendäre erste Ministerpräsident Israels für die Sichtweise auf das "andere Deutschland". Ben-Gurion und der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876-1967) trafen sich zeitlebens nur zweimal - 1960 und 1966. Und doch wirkten beide Staatsmänner fast wie ferne Freunde.
Die ersten offiziellen Gespräche zwischen der Bundesrepublik und Israel begannen schon 1952. Zunächst ging es um ein Wiedergutmachungsabkommen, dann gab es geheime Kontakte für deutsche Waffenlieferungen an Israel.
Als das im Spannungsgebiet des Nahen Ostens 1964 bekannt wurde, war die Aufregung groß. Und doch war es der letzte Anstoß für die Aufnahme der vollen diplomatischen Beziehungen 1965. Ein Schritt, der nicht wenigen Menschen im jungen jüdischen Staat schwerfiel. Die Ankunft des ersten deutschen Botschafters war noch von Krawallen begleitet.
Kohl, Merkel und Scholz in Israel
Durch gemeinsame Gedenktage und Besuche deutscher Regierungsvertreter wurden das Verhältnis und die Solidarität gestärkt. Zwar reiste Helmut Kohl in seinen 16 Jahren als Bundeskanzler nur zweimal nach Israel. Anders jedoch Angela Merkel: Sie besuchte Israel achtmal, zuletzt als noch amtierende Regierungschefin im Oktober 2021.
"Dass uns heute freundschaftliche Bande verbinden, ist ein unschätzbares Geschenk; und es ist ein unwahrscheinliches Geschenk vor dem Hintergrund unserer Geschichte", sagte Merkel 2018 und ging auch auf den Antisemitismus in Deutschland ein. Kanzler Olaf Scholz war im März 2022 zu einem Antrittsbesuch in Israel, sein bislang einziger Besuch als Kanzler. Er stand im Schatten des kurz zuvor begonnenen massiven Angriffs Russlands auf die Ukraine.
Was in den Merkel-Jahren von 2005 bis 2021 auffiel: In den rechts-nationalistischen Regierungszeiten von Benjamin Netanjahu reiste die Kanzlerin eher seltener nach Jerusalem. Im Jahr 2017 wurden bilaterale Regierungskonsultationen in Jerusalem sogar einmal abgesagt und im Oktober 2018, zum 70. Jahr der Staatsgründung Israels, formell nachgeholt.
Werben für die Zwei-Staaten-Lösung
Die deutschen Regierungschefs, vor allem Merkel in ihren 16 Jahren, betonen stets und in aller Deutlichkeit das Existenzrecht Israels. Parallel zur israelischen Siedlungspolitik in den Palästinensergebieten sprechen sie sich aber immer wieder für eine Zwei-Staaten-Lösung zwischen Israelis und Palästinensern aus und nennen diese auch bei ihren Appellen an die palästinensische Seite. Jeder neue israelische Siedlungsbau wird von Mahnungen aus Deutschland begleitet, die angespannte Lage im Land nicht weiter zu belasten.
Ein früher Höhepunkt der beiderseitigen Beziehungen war gewiss ein Auftritt Merkels in der Knesset. Sie sprach dort 2008 als erste ausländische Regierungschefin überhaupt: auf Deutsch, in der Sprache der Täter. Und sie wirkte sichtlich berührt, als sie die Worte sprach: "Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar."
"Deutschland wird - darauf können Sie sich verlassen - auch weiterhin fest an der Seite Israels stehen", erklärte Bundeskanzler Scholz im März 2022, als er zu Beginn seines Antrittsbesuchs die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem besuchte. Dort sprach er ausdrücklich von der historischen Verantwortung Deutschlands für den Staat Israel. Nach dem Gespräch mit dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett kündigte Scholz eine baldige Einladung von dessen gesamtem Kabinett zu deutsch-israelischen Regierungskonsultationen nach Berlin an.
Regierungskonsultationen schwer vorstellbar
Diese Regierungskonsultationen sind vielleicht das deutlichste Indiz für eine Entfremdung bei aller historischen Verpflichtung. 2008 gab es, damals in Jerusalem, die ersten dieser großen Regierungstreffen. Seitdem bis 2018 sechs weitere, drei in Berlin, drei in Jerusalem. Nun ist angesichts der politischen Konstellation ein Treffen mit allen Kabinettsmitgliedern für viele Beobachter kaum mehr vorstellbar.
Zwar gratulierte Bundeskanzler Scholz Ministerpräsident Netanjahu nach dessen erneuter Amtsübernahme Ende 2022 und erwähnte die besondere und enge Freundschaft beider Länder. Doch schaut die deutsche Seite kritisch auf die Einbindung rechtsextremer Parteien und Politiker in die Regierung. Zu deren Zielen zählen unter anderem die sogenannte Justizreform, die Wiedereinführung der Todesstrafe und der Ausbau von Siedlungen in Gebieten, welche die Palästinenser für einen künftigen Staat beanspruchen.
Kritik aus Berlin wird deutlicher
Anfangs kam Kritik von deutscher Seite nur von Regierungssprechern in der Bundespressekonferenz, die an die angestrebte Zwei-Staaten-Lösung zwischen Israelis und Palästinensern erinnerten. Doch Ende Februar äußerten auch zwei wichtige deutsche Minister Sorgen und Kritik.
Der deutsche Bundesjustizminister Marco Buschmann besuchte als erster deutscher Regierungsvertreter seit dem Macht- und Kurswechsel in Israel Jerusalem. Er wurde - in Gesprächen, bei Unterredungen, auf Twitter - deutlich. Es gelte, sich "klar gegen Tendenzen zu positionieren, die den Rechtsstaat gefährden", mahnte er. Es gehe um die "Wahrung der liberalen Demokratie", betonte der FDP-Politiker, und warnte davor, "den Rechtsstaat zu gefährden". Kaum jemals zuvor hatte sich jemand von deutscher Seite dermaßen kritisch zur innenpolitischen Lage in Israel geäußert.
Eine Woche später empfing Außenministerin Annalena Baerbock ihren neuen israelischen Amtskollegen Eli Cohen in Berlin. "Ich will nicht verhehlen, dass wir uns im Ausland Sorgen machen", sagte Baerbock öffentlich im Beisein Cohens. Eine starke Demokratie brauche "eine unabhängige Justiz, die auch Mehrheitsentscheidungen überprüfen kann". Und: Grundrechte seien "ihrem Wesen nach Minderheitenrechte". Zu der Zeit zogen in Israel schon Zigtausende bei Protesten gegen die Regierung durch die Straßen.