Belgien: Schauplatz einer Propagandaschlacht
9. Juli 2014Eine heile Welt zeigt diese deutsche Feldpostkarte aus dem Jahr 1914. Ein Matrose herzt liebevoll einen Säugling, den die stolze Mutter ihm präsentiert. Ein anderer Seemann hält einen kleinen Jungen auf dem Arm, während ein weiterer Matrose den Betrachter des Bildes freundlich anlächelt. Frieden und Harmonie strahlt dieses Bild aus – und ist damit weit von der damaligen Realität entfernt. Die Matrosen auf dem Bild sind deutsche Soldaten, die Zivilisten Belgier. Verbrüderungsszenen wie diese waren lediglich ein Produkt der deutschen Propaganda: Schließlich kamen die Deutschen im August 1914 nicht als Freunde, sondern als Eroberer. "Wie die deutschen 'Barbaren' aussehen", lautet die Beschriftung des Bildes. So wollte man verdeutlichen, dass sich die Deutschen entgegen der gegnerischen Propaganda im besetzten Belgien zivilisiert und anständig benähmen.
Opfer des Schlieffen-Plans
Dabei verstieß bereits der Einmarsch der deutschen Truppen Anfang August 1914 in das kleine Nachbarland gegen die Regeln des Völkerrechts. Belgien hatte sich in dem Konflikt Deutschlands gegen Frankreich als neutral erklärt. In der militärischen Planung der Deutschen galt der Einmarsch in Belgien allerdings als kriegsentscheidend. Laut dem deutschen Schlieffen-Plan sollten die französischen Truppen bereist auf französischem Gebiet von Süden und Norden umfasst und geschlagen werden.
Dazu war der Durchmarsch großer deutscher Truppenteile durch das neutrale Belgien nötig. Doch die Belgier entschlossen sich, ihr Land gegen die übermächtige deutsche Kriegsmaschinerie zu verteidigen. Die Deutschen mussten sich den Weg gegen heftigen Wiederstand der als "Praliné-Soldaten" verspotteten Belgier freikämpfen.
Die Furcht vor Freischärlern
Unter den deutschen Soldaten in Belgien ging derweil die Furcht vor sogenannten "Franc-tireurs" um, irregulären Kämpfern, die bereits im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 den deutschen Truppen Widerstand geleistet hatten. Überall sahen deutsche Soldaten in einer Art Massenhysterie nun vermeintliche belgische Partisanen, die Gerüchteküche brodelte. Angeblich, so hieß es unter den Soldaten, massakrierten belgische Zivilisten deutsche Soldaten, verstümmelten sie und schnitten ihnen Finger und Ohren ab. Der deutsche Kaiser befeuerte dieses Bild, indem er öffentlich den Belgiern zürnte. Sie hätten sich "geradezu teuflisch, um nicht zu sagen viehisch benommen". Auch die deutsche Propaganda des Generalstabes stieß ins gleiche Horn: "Truppen sind aus dem Hinterhalt, Ärzte bei der Ausübung ihrer Tätigkeit beschossen worden. Gegen Verwundete wurden Grausamkeiten von der Zivilbevölkerung verübt".
Dabei sah die Wahrheit ganz anders aus: Belgische Partisanen gab es so gut wie keine. Oft beschossen sich im Krieg unerfahrene und nur knapp ausgebildete deutsche Soldaten selbst. Die Schuld fiel auf vermeintliche belgische Partisanen. In immer mehr Orten massakrierten deutsche Soldaten belgische Zivilisten. In der Gemeinde Soumagne erschossen Deutsche bereits am 5. August über 100 Zivilisten, etliche Häuser steckten sie in Brand. Weit über 5.000 unbeteiligte Belgier wurden bereits in den ersten zwei Monaten seit Kriegsbeginn ermordet, darunter auch Frauen und Kinder.
Löwen in Flammen
Schnell verbreiteten sich die Nachrichten von den deutschen Kriegsverbrechen bei den Kriegsgegnern – und wurden lange im Propagandakampf eingesetzt. Den Schatten eines deutschen Soldaten, unschwer an seiner Pickelhaube zu erkennen, zeigt ein amerikanisches Propagandaplakat aus dem Jahr 1918. Er zerrt ein junges Mädchen hinter sich her, das sich wehrt. Im Hintergrund verschlingen Flammen eine Ortschaft. "Remember Belgium" steht als Überschrift darüber. So forderte das Plakat die Amerikaner auf, Kriegsanleihen zu zeichnen – um den Kampf gegen das "barbarische" Deutschland zu finanzieren, das sich selbst an Frauen und Kindern vergreifen würde.
Die deutsche Propaganda blieb gegen die gegnerische Propaganda machtlos. Schließlich hatten die deutschen Übergriffe in Belgien tatsächlich stattgefunden – und gefährdeten so den unter den Deutschen verbreitete Mythos, im Ersten Weltkrieg Opfer einer französisch-russischen Einkreisung zu sein und sich nur zu verteidigen. Als schließlich deutsche Truppen am 25. August 1914 auch noch die belgische Universitätsstadt Löwen mit ihren Kunstschätzen und der weltberühmten Universitätsbibliothek in Brand setzten, war das deutsche Ansehen im Ausland dahin.
"An die Kulturwelt!"
Mit ihrem Aufruf "An die Kulturwelt!" versuchten 93 deutsche Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler, darunter Max Planck oder auch Gerhart Hauptmann das deutsche Vorgehen zu rechtfertigen. "Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat", heißt es darin. "Es ist nicht wahr, daß unsere Truppen brutal gegen Löwen gewütet haben", geht es weiter. Gefolgt von: "Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet". Und doch: Angesichts der unleugbar stattgefundenen Morde und Zerstörungen in Belgien hatte Deutschland den Kampf um die Propagandahoheit bereits verloren.
Der "Aufruf der 93" konnte daran nichts ändern. Russische, französische, britische und später amerikanische Soldaten zogen fortan mit der Überzeugung in den Krieg, gegen einen barbarischen, unmenschlichen deutschen Feind zu kämpfen. Eine Entschuldigung für die deutschen Kriegsverbrechen sollten die Belgier allerdings erst im Jahr 2001 erhalten. "Ich möchte Sie alle bitten, das von Deutschen in Ihrem Lande damals begangene Unrecht zu vergeben", sagte damals der deutsche Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow in der belgischen Ortschaft Dinant, die 1914 Schauplatz eines deutschen Massakers an der Zivilbevölkerung geworden war.