Belarus: Mit Kindern zum Massenprotest
26. September 2020"Die Teilnahme von Kindern an Kundgebungen wird einer rechtlichen Bewertung unterzogen", kündigte jüngst der belarussische Vizepremierminister Igor Petrischenko an, der auch für die Einhaltung der Rechte von Kindern zuständig ist. Inzwischen drohen die belarussischen Behörden Personen, die gegen die umstrittene Regierung von Alexander Lukaschenko demonstrieren, nicht nur mit Geldstrafen, sondern auch mit der Überprüfung ihrer familiären Verhältnisse - mit anderen Worten: mit dem Entzug des Sorgerechts für ihre Kinder.
Tatsächlich hat die Staatsanwaltschaft in Minsk schon 140 Verwarnungen verschickt. Doch viele Menschen lassen sich davon nicht einschüchtern. Mehrere Familien haben der DW über ihre Teilnahme an Protestkundgebungen mit ihren Kindern berichtet.
Veronika, Journalistin: Was wir nicht erreichen, müssen die Kinder schaffen
"Wenn man eine Familie unter Druck setzen will, findet sich ein Weg", sagt Veronika. Selbst wenn man nichts verbrochen habe, könne man angesichts der totalen Willkür Besuch von den Behörden bekommen, betont die dreifache Mutter. Sie will, dass ihre Kinder in einem freien Land leben: "Wenn wir nicht jetzt Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit erreichen, werden sie dies erreichen müssen", so die Journalistin.
Veronika und ihr Mann haben ihre Kinder mehrmals zu Demonstrationen mitgenommen. Bedenken hatte sie nicht: "Ob mit oder ohne Kinder, aus Sicherheitsgründen sollte man in einer großen Kolonne gehen. Aber wenn sich Tausende hinter einem und Tausende vor einem befinden, wird einem klar, dass es überhaupt nicht so viele Polizisten gibt, dass sie dieser Masse von Menschen etwas Schlimmes antun könnten."
Alexej, Angestellter im Finanzwesen: Kinder sollen wissen, was die Eltern tun
"Sollte Demonstranten das Sorgerecht entzogen werden, würde dies die Unzufriedenheit noch verstärken. Man wird die Kinder zuhause lassen und trotzdem protestieren", meint Alexej, Vater einer vierjährigen Tochter. "Wir sind von Brest nach Minsk gezogen, wo wir keine Verwandten haben. Wir wollen unsere Tochter nicht von Unbekannten beaufsichtigen lassen, daher haben wir sie mehrmals zu Kundgebungen mitgenommen."
Alexej findet, dass sich die Demonstranten vorsichtig verhalten: "An den Protesten beteiligen sich meist gebildete und intelligente Menschen. Außerdem finden die Kundgebungen auf breiten Straßen statt. Man kann immer beiseite treten. Was die Polizei angeht, so gab es meines Erachtens bisher keine Fälle, wo sie Eltern mit Kindern weggebracht hat."
Doch Alexej warnt, die Lage verändere sich. Es sei immer gefährlicher, zu protestieren. Demonstranten würden massenhaft festgenommen. Daher habe er entschieden, vorerst allein zu den Kundgebungen zu gehen. Alexej ist aber überzeugt, dass Kinder wissen sollten, welche Position ihre Eltern als Bürger des Landes vertreten: "Wenn es uns jetzt nicht gelingt, etwas zu ändern, dann werden sie vielleicht Erfolg haben."
Elena, Medizinerin: Weiß-rot-weiße Flagge auf Schulhefte geklebt
"Wir haben an allen großen Kundgebungen teilgenommen", sagt Elena, die zwei Söhne im Alter von 14 und 16 Jahren hat, und fügt hinzu: "Vor den Wahlen hatten wir keine Angst, da uns gar nicht klar war, was hätte passieren können. Wir nahmen unsere Kinder mit."
Doch am Wahlabend des 9. August sah Elena das ganze Grauen, wie die Polizei brutal gegen Demonstranten vorging. "An den nächsten Tagen habe ich die Kinder zu Hause gelassen", erinnert sie sich. Die Frau befürchtet vor allem, ihre jugendlichen Söhne könnten Opfer von Polizeigewalt werden. "Sie sehen nicht mehr wie Kinder aus", erläutert sie. "Man weiß nie, was man von den Polizeikräften zu erwarten hat."
Ihr zufolge haben viele Schulkinder auf den Deckblättern ihrer Hefte die grün-rote Fahne von Belarus durch die historische weiß-rot-weiße Flagge, die zu einem Symbol der Proteste geworden ist, ersetzt. Bis jetzt habe es aber diesbezüglich seitens der Lehrer noch keine Beschwerden bei den Eltern gegeben.
Natalia, Buchhalterin: Es ist sicherer, ohne Kinder zur Demo zu gehen
Doch so ist es nicht überall. "In einer Minsker Schule wurden an die Kinder rot-grüne Flaggen verteilt, sie mussten mit ihnen marschieren und wurden dabei gefilmt. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte", sagt Natalia, die zweifache Mutter ist.
Sie hat ihre Kinder im Alter von acht und 15 Jahren nur einmal zu einer Kundgebung mitgenommen: "Der ältere Sohn ist schon sehr groß und leicht mit einem Erwachsenen zu verwechseln. Daher habe ich Angst um ihn", erzählt die Buchhalterin. Sie selbst hat sich in der ersten Woche nach den Wahlen jeden Tag an den Protesten beteiligt. Jetzt macht sie das nur noch sonntags: "Ich sehe viele Eltern mit Kindern, darunter auch mit sehr kleinen im Kinderwagen. Das würde ich mich nicht trauen. Es ist sicherer, allein zur Demo zu gehen. Was einen Entzug des Sorgerechts angeht, so halte ich das nur für Einschüchterung. Rechtlich gesehen ist das ein sehr schwieriges Verfahren", so Natalia.
Oleg, Angestellter im Bildungswesen: Sein Sohn wollte ihn nicht allein lassen
Oleg (der Name wurde auf Wunsch geändert) ist Vater eines achtjährigen Jungen und eines älteren Mädchens, das aber nicht bei ihm lebt. "Nach der Abstimmung sind wir zum Wahllokal gegangen, um uns das dortige Ergebnis anzuschauen, aber dort gab es keinen Aushang mit den Ergebnissen. Die Mitglieder der Wahlkommission waren durch den Keller geflüchtet", erinnert er sich.
Danach verfolgte er mit seiner Familie genau, was in Minsk geschah: "Es war ein apokalyptischer Anblick, als wir am Abend des 11. August von der Arbeit nach Hause fuhren: Weder Autos noch öffentliche Verkehrsmittel, nur Polizei und Spezialfahrzeuge. Wir wussten nicht, was wir auf die Fragen unseres Jungen antworten sollten."
Oleg sagt, sein Sohn sei bei mehreren Kundgebungen mit dabei gewesen: "Am 16. August wollte ich ihn zur Großmutter bringen, aber er sagte, er würde uns nicht alleine gehen lassen. Für die nächste Demo malte er eine weiß-rot-weiße Flagge." Doch nun, wo Demonstranten einen Entzug des Sorgerechts für ihre Kinder zu befürchten hätten, wolle er seinen Sohn nicht mehr mitnehmen: "Dies bedeutet nicht, dass unsere Proteststimmung einknickt. Wir werden weiterhin unsere Kinder zu guten Bürgern erziehen, die das Recht auf eine eigene Position und freie Meinungsäußerung haben."
Adaption: Markian Ostaptschuk