Belarus: Kampf gegen den "paranoiden Diktator"
22. September 2020Yelena Leuchanka beschreibt den Moment, als sie wusste, dass es "kein Zurück mehr" geben würde. In den Tagen nach dem umstrittenen Wahlsieg des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko musste Leuchanka erschrocken mitansehen, wie demonstrierende Bürger von den belarussischen Sicherheitsdiensten verprügelt und verschleppt wurden. Die im ganzen Land bekannte Basketballspielerin erkannte, dass sie nicht länger schweigen konnte.
"Wenn man sich schneidet und man weiter auf die Verletzung drückt, blutet es nur umso mehr", sagt die Sportlerin der DW. Sie ist erklärte Gegnerin des Präsidenten, der seit über 26 Jahren an der Macht ist und als "letzter Diktator Europas" gilt. "Wir sind über den Wendepunkt längst hinaus, es gibt kein Zurück mehr. Wir leben im 21. Jahrhundert, wir sind in Europa, wie ist das möglich? Hier gibt es keine Menschenrechte. Wir können nicht friedlich protestieren."
Massendemos seit August
Die Massendemonstrationen gegen den Machthaber haben nach den Wahlen im August begonnen, bei denen Lukaschenko laut offiziellem Wahlergebnis 80,23 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch prangert an, dass Protestierende willkürlich festgenommen und "hunderte von Menschen Folter und anderer Misshandlung" unterzogen werden - darunter auch Sportler, die sich öffentlich positionieren.
Beim letzten großen Protest am vergangenen Sonntag hat Yelena Leuchanka nochmal beobachtet, wie brutal die Sicherheitskräfte mitunter vorgehen. "Ein Mann wurde von mehreren Polizisten umringt und festgehalten. Dann kam ein weiterer und schlug ihm, obwohl er bereits festgehalten wurde und sich nicht schützen konnte, aus dem Nichts einfach in den Bauch", berichtet die Basketballerin. "Ich verstehe nicht, warum es so viel Brutalität und Hass gegenüber der eigenen Bevölkerung gibt."
Ein gemeinsames Ziel
Leuchanka hat sich der "Free Union of Athletes" angeschlossen, einer neu gegründeten Bewegung belarussischer Sportler. Sie fühle sich "verpflichtet", ihre Stimme zu erheben und für andere Menschen im Land einzutreten. "Für viele Sportkollegen und auch für mich ist das etwas ganz Neues", betont Leuchanka, die ihr Land bei Olympischen Spielen mit dem Basketball-Team vertreten hat. "Wir versuchen, unser Volk so gut wie möglich zu unterstützen, denn ich weiß, wenn man uns da draußen zusammen mit den Demonstranten sieht. Es gibt den Menschen Hoffnung und das Gefühl, nicht allein zu sein."
Leuchanka ist eine von fast 600 belarussischen Sportler*innen, die einen offenen Brief unterzeichnet haben, in dem unter anderem Neuwahlen und ein Ende der Polizeigewalt in Belarus gefordert werden. In Anbetracht drohender Repressalien ließen die Unterzeichner wissen, dass "alle Athleten gemeinsam handeln werden, bis hin zu einer möglichen Weigerung, für die Nationalmannschaft zu spielen".
Initiiert hat den Brief Alexander Opeikin, ein belarussischer Handballfunktionär. Er sagt, er wisse von 30 Fällen, in denen Sportler aufgrund ihrer politischen Haltung ihren Arbeitsplatz verloren hätten oder anderweitig sanktioniert worden seien. "Wir sind im Konflikt mit dem Sportministerium", berichtet Opeikin der DW und sagt: "Alle Sportler stehen jetzt unter Druck." Das belarussische Sportministerium reagierte laut Opeikin bislang weder auf die Bitte um Stellungnahme zu dem Schreiben noch auf die Anschuldigung, dass Sportler vom Staat sanktioniert würden. Die meisten Sportarten und ihre Förderung sind in Belarus direkt an den Staat gebunden. Die Athleten sind somit in der Regel finanziell von der Regierung abhängig.
Top-Sportler sollen sich anschließen
Die großen Sportstars aus Belarus wie Tennisspielerin Victoria Azarenka und die mehrfache Biathlon-Olympiasiegerin Darya Domracheva halten sich bislang zurück. Während der US Open, bei denen sie das Finale erreichte, bezeichnete Azarenka die Situation als "herzzerreißend", ließ sich aber nicht weiter auf das Thema ein. Azarenka lebt in den USA. Domracheva rief bisher lediglich via Instagram dazu auf, "die Polizeigewalt zu beenden". Yelena Leuchanka sagt, sie verstehe nicht, was die namhaften Sportler daran hindert, ihre Stimme zu erheben. "Ich respektiere sie als Sportler und das, was sie für unser Land erreicht haben. Aber unser Sport ist nur dann populär, wenn man Menschen hat, die einem zujubeln", erklärt Leuchanka. "Jetzt ist es an der Zeit, dass wir Sportler für die Menschen eintreten. Und das gilt auch für die großen Athleten unseres Landes, zu denen die Menschen aufschauen. Ihre Stimmen sind wichtig und können etwas verändern."
Der sportbegeisterte Präsident Lukaschenko hat die Öffentlichkeit in der Vergangenheit immer wieder für seine eigenen Zwecke genutzt. Zum Beispiel im vergangenen Jahr, als Belarus Gastgeber der Multisport-Spiele "European Games" war, an denen 4000 Athlet*innen teilnahmen. Die Wirkung war ganz nach dem Geschmack des Präsidenten: IOC-Präsident Thomas Bach gratulierte Lukaschenko damals zur "ausgezeichneten Organisation" und der "guten Atmosphäre". "Sport ist für Lukaschenko sehr wichtig, weil er die Macht des Sports und die Macht der Athleten versteht", sagt Alexander Opeikin: "Für ihn ist es eine Art Legitimation. Er ist ein wirklich paranoider Diktator. Und als paranoider Diktator will er alle Bereiche des belarussischen Lebens kontrollieren. Der Sport ist nicht ausgeschlossen."
Der Interessenkonflikt
Lukaschenko, der die Grenzen zwischen Politik und Sport gekonnt verwischt, ist auch für das Nationale Olympische Komitee von Belarus (NOK) zuständig - und das als Präsident. Eigentlich eine klare Verletzung der Olympischen Charta, in der es heißt, dass die NOKs ihre Autonomie bewahren und gegen Einflussnahme jeglicher Art gesichert sein müssen. Rob Koehler, Chef der von Athleten geführten Bewegung "Global Athlete", nennt das belarussische Modell eine "Fassade". Das IOC messe hier schlicht mit zweierlei Maß, sagt Koehler gegenüber der DW und erklärt: "Sie sagen, dass die Welt des Sports autonom sein soll. Aber dennoch wird zugelassen, dass der politische Führer eines Landes der Spitze des NOK vorsteht. Wo bleibt da die Autonomie?"