Belarus: Deutschland droht und sorgt sich
11. November 2021Die belarussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja saß auf der Besuchertribüne des Bundestages, als das Parlament über die sich zuspitzende Lage an der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus debattierte.
Die Stimmung im Parlament war emotional, viele Abgeordnete machten ihrer großen Empörung Luft - und doch konnten die in einer knappen Stunde vorgetragenen Forderungen nicht darüber hinwegtäuschen, wie groß die politische Hilflosigkeit derzeit ist.
In den letzten Tagen hat sich die Lage in der Grenzregion dramatisch verschlechtert. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat immer mehr Menschen aus Krisenregionen einfliegen und an die Grenze bringen lassen. Dort sitzen sie nun fest. Bereits mehrfach versuchten größere Gruppen von Migranten vergeblich, die Zaunanlage aus Stacheldraht zu durchbrechen, mit der Polen sie von einem Grenzübertritt abhalten will.
"Humanitäres Desaster"
Mindestens zehn Menschen seien bereits ums Leben gekommen, berichtete die Linken-Abgeordnete Gökay Akbulut im Bundestag: "Menschen, die nicht hätten sterben müssen." Die Linkspartei macht nicht nur Belarus für das Drama verantwortlich, sondern auch Polen.
"Die Zurückweisung von Geflüchteten ohne individuelle Prüfung des Asylverfahrens ist ein eindeutiger Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen geltendes EU-Asylrecht", sagt Akbulut. Rechte, die nicht durch die nationale polnische Gesetzgebung ausgehebelt werden könnten. Dagegen müsse die EU-Kommission vorgehen.
Von einem "humanitären Desaster" sprach die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Franziska Brantner: "Lukaschenko instrumentalisiert Menschen, indem er sie aus Damaskus, Dubai, Istanbul oder Moskau einfliegt. Aber trotzdem sind diese Menschen keine Waffe. Sie sind keine Verhandlungsmasse, sondern sie sind Menschen mit ihrer Würde."
Merkel bittet Putin um Hilfe
Ähnlich hatte sich am Mittwochabend die noch amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel geäußert, nachdem sie mit dem russischen Präsidenten telefoniert hatte. "Ich habe heute mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert und ihn gebeten, auf den Präsidenten Lukaschenko einzuwirken. Denn hier werden Menschen benutzt, sie sind sozusagen Opfer einer menschenfeindlichen Politik, und dagegen muss etwas unternommen werden", sagte sie. Die Probleme müssten so gelöst werden, "dass es human zugeht. Das tut es im Augenblick leider nicht."
Merkels Amtszeit geht zu Ende, die Sozialdemokraten, die Grünen und die liberale FDP verhandeln gerade über die Bildung einer neuen Bundesregierung. Die Grünen-Abgeordnete Brantner sagte im Bundestag, eine der "großen Aufgaben" der nächsten Regierung sei es, die Politik gegenüber Russland auf den Prüfstand zu stellen.
Wladimir Putin decke den "perfiden Erpressungsversuch" Lukaschenkos und halte das belarussische Regime am Leben: "Wir müssen unsere Verwundbarkeiten abbauen und eine neue Politik des Dialogs und der Härte voranbringen."
Sanktionen - auch gegen die Transitländer
Mit Blick auf Belarus forderte Brantner weitere Sanktionen. Gegen die belarussische Kali-Industrie, aber auch gegen politisch Verantwortliche: "Die Weihnachtszeit ist ja eine beliebte Einkaufszeit in München und anderen deutschen Städten, gerade für die belarussische Machtelite. Das muss doch nicht sein."
Konsequenzen müsse es auch für Fluggesellschaften geben, die Migranten aus dem Nahen Osten nach Belarus transportierten. Sie hoffe, so Brantner, dass die noch amtierende Bundesregierung so schnell wie möglich etwas unternehme.
Der noch amtierende Bundesaußenminister Heiko Maas stellt genau das in Aussicht - auch mit Blick auf die beteiligten Transitländer: "Niemand sollte sich ungestraft an Lukaschenkos menschenverachtenden Aktivitäten beteiligen dürfen."
Es sei zwar rechtlich nicht einfach, Fluggesellschaften zu sanktionieren, weil sie formal rechtlich nicht Illegales tun. "Aber wir haben allen mitgeteilt, dass die EU-Mitgliedstaaten sehr wohl überlegen, diejenigen, die Mittäter eines Schleusers sind, in Haftung zu nehmen und Lande-Rechte werden in jedem einzelnen Mitgliedstaat selbst erteilt."
CDU/CSU gegen Aufnahme der Flüchtlinge
Die humanitäre Versorgung der Menschen im belarussischen Grenzgebiet habe Priorität, sagte Maas weiter: "Zu den Grundwerten der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten gehört, dass wir Menschen in Not nicht allein lassen und diese gemeinsamen Werte werden wir auch an unseren Außengrenzen hochhalten müssen."
Das Völkerrecht gebiete in dieser Situation, humanitären Zugang zu gewähren. Internationale Hilfsorganisationen und zivilgesellschaftliche Vereinigungen stünden bereit. "Und das muss möglich gemacht werden."
Für die CDU/CSU-Fraktion forderte deren Abgeordneter Thorsten Frei Unterstützung für Polen bei der Sicherung der EU-Außengrenze zu Belarus und als letztes Mittel Grenzkontrollen an der deutsch-polnischen Grenze, inklusive der Rücküberstellung der Migranten nach Polen im Rahmen der Dublin-Verordnung.
Keinesfalls dürften Migranten aus dem Grenzgebiet in Europa verteilt werden. "Damit geht das Kalkül von Lukaschenko auf. Damit wird der Druck auf die polnische Grenze verstärkt und damit wird ein Spaltpilz in die Europäische Union getrieben. Das ist das Dümmste, was man an dieser Stelle fordern kann", sagte Frei.
Die AfD hetzt und Lukaschenko eskaliert weiter
So sieht es auch die in Teilen rechtsradikale AfD. Die Bundestagsdebatte nutzte die Fraktion, um erneut auch grundsätzlich Stimmung gegen Migration zu machen. "Einwanderung ist kein Menschenrecht. Illegaler Grenzübertritt ist ein krimineller Akt", sagte der AfD-Abgeordnete Gottfried Curio: "Polen schützt sich, Deutschland und die ganze EU."
In einem im Bundestag eingebrachten Antrag fordert die AfD-Fraktion die Bundesregierung auf, die Maßnahmen Polens, Ungarns und anderer europäischer Staaten "zur Abwehr destabilisierender Migrationsbewegungen" zu unterstützen. Dazu gehört nach Ansicht der Partei, Unterstützung beim Bau, Ausbau und Unterhalt von Grenzzäunen zu leisten.
Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko droht unterdessen damit, Gaslieferungen nach Europa zu stoppen, sollte die EU ihre Sanktionen ausweiten. "Wir wärmen Europa und sie drohen uns", sagte Lukaschenko nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Belta.
"Was, wenn wir die Gaslieferungen unterbrechen? Wenn sie neue Sanktionen gegen uns verhängen, müssen wir reagieren", warnte er die EU-Staaten mit Blick auf die Jamal-Europa-Pipeline, die durch Belarus führt und russisches Gas nach Europa bringt.