Beate Klarsfeld: Eine Ohrfeige schreibt Geschichte
7. Mai 2021Es ist nicht das erste Mal, dass die junge Frau mit radikalen Gedanken im Kopf unterwegs ist. Beate Klarsfeld, mit modischem Pullover, Kurzhaarschnitt und fest entschlossenem Blick, sitzt am frühen Morgen des 7. November 1968 neben einem Freund im Auto. Sie sind auf dem Weg zur Berliner Kongresshalle.
"Ich habe nur noch diesen Vormittag", denkt sie in ihrer Comic-Sprechblase. "Das ist meine letzte Gelegenheit! In wenigen Stunden wird die Sitzung des CDU-Parteitags beendet. Danach ist es zu spät..." Wenig später hat sie es geschafft: Mit einer Pressekarte kommt sie an allen Polizeikontrollen und Absperrungen vorbei und betritt erwartungsvoll den mit Delegierten vollbesetzten Saal.
Die junge Deutsche, die seit 1960 in Paris lebt, nimmt das Präsidium vorne auf dem Podium ins Visier. In der Mitte thront der deutsche Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. "Gar nicht leicht, näher ranzukommen. Egal ich versuch's", denkt sie in der Comiczeichnung.
Klatsche für den Kanzler: Ein Moment von historischer Tragweite
Klarsfeld verschafft sich - charmant die Security-Männer umgarnend - Zutritt zu dem Sicherheitsareal rund um das Präsidium. Einen kurzen Moment ist sie unbeobachtet, geht schnellen Schrittes die Reihen der Politiker entlang, bis sie Kiesingers Platz erreicht hat. Blitzschnell wendet sie sich dem prominenten CDU-Politiker zu, knallt ihm eine Ohrfeige ins Gesicht und schreit laut: "Nazi, Nazi!" Kameraleute und Fotografen aus aller Welt halten diesen Moment für immer fest, er wird Geschichte schreiben - nicht nur in Westdeutschland.
Die neu erschienene Graphic Novel "Beate & Serge Klarsfeld. Die Nazi-Jäger" (Carlsen-Verlag) von Pascal Bresson und Sylvain Dorange erzählt in starken filmischen Bildsequenzen die ganze Geschichte - und auch die Liebesgeschichte einer Protestantin aus Deutschland mit einem französischen Juden, die damit ein sehr persönliches Kapitel deutsch-französischer Freundschaft schreiben.
1968 haben ehemalige NSDAP-Mitglieder hohe Regierungsämter
Die Sicherheitsbeamten in der Berliner Kongresshalle haben leichtes Spiel: Die zarte junge Frau wird schnell überwältigt, abgeführt und wenig später schon auf der Wache von Polizeibeamten verhört. "Ich bin Beate Klarsfeld und mit Serge Klarsfeld verheiratet", gibt sie zu Protokoll. "Und ich bin empört über die Ungerechtigkeit, dass alte Nazis in Deutschland ungestraft davon kommen."
Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger ist nicht der erste Nazi, der in der Bundesrepublik ein hohes Regierungsamt bekleidet. Adenauers Kanzleramts-Chef war Hans Globke, parteitreuer Verwaltungs-Jurist und Mitverfasser der berüchtigten Nürnberger Rassegesetze des NS-Regimes.
Kiesinger war hochrangiges Mitglied der NSDAP, Hitler stets treu zu Diensten und zuletzt Abteilungsleiter in der Reichsrundfunk-Abteilung. Die Alliierten entließen ihn nach der formalen Entnazifizierung als Mitläufer. Seit 1966 führt der konservative CDU-Politiker als 3. Bundeskanzler der Republik die Amtsgeschäfte in einer Großen Koalition.
Kein Platz für unbequeme Wahrheiten in der jungen Bundesrepublik
Die politische Aktivistin Beate Klarsfeld hatte bereits mehrere Artikel über die Nazi-Vergangenheit von Kiesinger geschrieben - ohne Erfolg. Niemand wollte vor 1968, einem Umbruchjahr, das von Studierendenprotesten und Demonstrationen durchzogen war, etwas von der Nazivergangenheit wissen.
Und auch danach hielten konservative Parteien wie die CDU oder andere rechtsgerichtete Gruppierungen an einer fatalen Schlussstrich-Mentalität fest. Die Bürger machten es sich im Wohlstand des westdeutschen Wirtschaftswunders lieber bequem. Unbequeme Wahrheiten über alte Nazis hatten in diesem neuen Gesellschaftsmodell keinen Platz.
Beate Klarsfeld: "Auf einen Skandal mit einem Skandal antworten"
Dem politisch sehr engagierten Ehepaar Klarsfeld aus Paris war klar, dass man gegen diese politische Apathie nicht mit Flugblättern und verbalen Attacken auf Demos ankam. "Wir hatten genug Informationen über die Nazi-Vergangenheit von Kiesinger, die wir auch veröffentlichten. Aber niemand war daran interessiert", erinnert sich Beate Klarsfeld. "Um einen Skandal aufzudecken, musste man mit einem Skandal antworten", so ihr Fazit damals.
Die Kiesinger-Ohrfeige brachte der damals 29-Jährigen ein Jahr Haft ein, die allerdings nie vollstreckt wurde. "Am Ende wurde ich dann zu vier Monaten auf Bewährung verurteilt", sagt Klarsfeld im DW-Interview. "Und als dann Willy Brandt 1969 an die Regierung kam, wurde die ganze Sache annulliert."
Die mutige Aktion brachte der jungen Deutschen weltweit mediale Aufmerksamkeit ein. Sie wurde Auftakt für zahlreiche Kampagnen gegen frühere Nazis in Regierungsämtern der Bundesrepublik. 1978 musste der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Hans Filbinger, wegen seiner NS-Vergangenheit als Marine-Richter von seinem Amt zurücktreten.
Serge Klarsfelds Vater wurde in Auschwitz ermordet
Die Form der Graphic Novel ist für eine solch komplexe Geschichte gut geeignet. Auch jüngere Leserinnen und Leser lassen sich von den Comiczeichnungen schnell in die Erzählung reinziehen: unterhaltsam, kurzweilig, wie Filmsequenzen geschnitten, auch um das Gewicht der tragischen Familiengeschichte von Serge Klarsfeld auszutarieren. "Meine Skripte sollten wie Drehbücher sein", erklärt Pascal Bresson. "Das ist Kino auf Papier."
Der Vater von Serge Klarsfeld wurde von den Nazis nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Der kleine Junge, der sich mit Mutter und beiden Schwestern vor der Pariser Gestapo versteckten konnte, überlebte nur mit knapper Not. Auch dieser historische Hintergrund wird mit einfühlsamen Zeichnungen erzählt.
Liebesgeschichte zwischen deutscher Protestantin und französischem Juden
Was mir am meisten gefallen hat, war ihre Beziehung: eine Deutsche und ein Jude, das ist nicht alltäglich", erzählt Autor Bresson, der bereits eine Biografie über Simone Veil geschrieben hat. "Sie haben sich zusammengetan, um die Mörder der jüdischen Opfer zu finden. Sie wollten einfach Wahrheit und Gerechtigkeit."
Die Liebesgeschichte des Ehepaars Klarsfeld gibt der Graphic Novel eine anrührende Facette. Für die vorsichtige politische Annäherungsphase zwischen Deutschland und Frankreich nach 1945 ist so eine Beziehung außergewöhnlich. Beate ist Protestantin, Serge Jude. In der Familie ihres Mannes wird sie freundlich aufgenommen. "Meine Schwiegermutter hatte in Deutschland studiert", erzählt Beate Klarsfeld im Gespräch mit der DW. "Sie liebte die Deutschen sehr und hatte überhaupt keine Vorurteile gegen mich."
Es ist die Gründungszeit des deutsch-französischen Jugendwerks, bei dem die junge Deutsche damals als Sekretärin arbeitet. Und sie schwärmt für Willy Brandt. Die Ohrfeige setzt ihrer Laufbahn 1968 ein Ende: Sie wird fristlos entlassen. Eine historische Fußnote, aber von Erfolg gekrönt. 1975 wird das Gesetz, dass die Bundesrepublik verpflichtet, Nazi-Verbrecher vor Gericht zu bringen, vom Deutschen Bundestag verabschiedet. Es ist bis heute gültig - und bekannt als "Lex Klarsfeld".