Die Geschichte einer Ohrfeige
13. Februar 2014"Ich werde Kiesinger öffentlich ohrfeigen", sagt Beate Klarsfeld im Mai 1968 den Studenten im Audimax der Technischen Universität Berlin. Sie und ihr französischer Ehemann Serge Klarsfeld haben es sich zur Aufgabe gemacht, untergetauchte Nazi-Verbrecher aufzuspüren. Ihr Engagement beginnt mit Recherchen über den damaligen deutschen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger.
1967 veröffentlicht Beate Klarsfeld drei Artikel in der französischen linksliberalen Zeitung Combat und kritisiert darin Kiesinger: "Er hat seine ganze Intelligenz in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt und wusste genau, was geschah - militärisch und in den Vernichtungslagern." Kurt Georg Kiesinger war im Dritten Reich Parteimitglied der NSDAP. Unter Adolf Hitler arbeitete er im Reichsaußenministerium. Später stieg er dann zum stellvertretenden Abteilungsleiter der Rundfunkabteilung auf. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war Kiesinger von einem Spruchkammergericht entlastet worden.
Entlassung wegen Kiesinger-Recherche
Doch für Beate Klarsfeld ist es unvorstellbar, dass ein ehemaliger Nationalsozialist 1966 zum Bundeskanzler gewählt wird. "Ich musste etwas dagegen tun, dass so kurze Zeit nach dem Krieg die Bundesrepublik von einem Nazi regiert wird", sagt sie. Nach Veröffentlichung der drei Artikel verliert sie ihren Job als Sekretärin beim deutsch-französischen Jugendwerk. "Da hat man eine Frau aus dem Jugendwerk entlassen, weil sie gesagt hat, ein Nazi ist ein Nazi." Trotz der Entlassung recherchiert Klarsfeld weiter über Kiesingers Nazi-Vergangenheit. Die Gelegenheit für ihre aufsehenerregende Aktion wird sich aber erst gut ein halbes Jahr später bieten.
Am 13. Februar 1939 kommt Beate Klarsfeld als Beate Auguste Künzel zur Welt. Sie wächst in Berlin auf, ab 1960 lebt sie in Frankreich. Nach Paris kommt sie als Au Pair-Mädchen - auf dem Weg zur Sprachschule lernt sie ihren zukünftigen Ehemann Serge kennen. "Er hat mir die Augen geöffnet" sagt sie. Serge Klarsfeld ist Jude und erzählt ihr, wie er als Kind 1943 im südfranzösischen Nizza nur knapp den Nationalsozialisten entkommen war. Sein Vater, Arno Klarsfeld, wurde dagegen von den Nazis nach Auschwitz deportiert und ermordet.
"Ich wollte etwas tun"
Während ihrer Jugend in Deutschland wird über die NS-Vergangenheit so gut wie nicht gesprochen. Erst in Paris, wo die Franzosen wegen ihrer Herkunft - wie sie sagt - zu ihr "auf Distanz gegangen" seien, wird Beate Klarfeld mit dem Holocaust konfrontiert. "Ich habe mich nicht schuldig gefühlt, denn es war ja die Generation meiner Eltern, die dieses Verbrechen verübt hat, aber ich wollte etwas tun", sagt sie. Bei ihrer Hochzeit 1963 mit Serge Klarsfeld soll der Standesbeamte gesagt haben: "Machen sie aus ihrer deutsch-französischen Ehe etwas Besonderes!"
Gemeinsam mit ihrem Mann Serge recherchiert sie 1968 weiter über Kiesingers Nazi-Vergangenheit und sammelt historische Dokumente gegen ihn. Serge Klarsfeld reist dafür sogar in die DDR, denn die Unterlagen lagern in Archiven in Potsdam, wo zuvor das Propagandaministerium der Nationalsozialisten gewesen war. Die mühsam zusammengesuchten Dokumente schicken die Klarsfelds an deutsche Abgeordnete und Journalisten, doch es gibt keine Reaktion. "Ich bekam immer die Antwort: Liebe Frau Klarsfeld, der Bundeskanzler ist demokratisch gewählt worden, was soll das denn noch?"
"Ich werde ihn ohrfeigen"
Eine öffentliche Debatte über die Nazi-Vergangenheit Kiesingers bleibt aus. Auch nachdem Beate Klarsfeld am 2. April 1968 von der Zuschauertribüne im Bonner Bundestag ruft, "Kiesinger, Nazi, abtreten!", passiert nichts - dabei kostet diese erste öffentliche Aktion gegen Kiesinger die damals 29-Jährige viel Mut. Der Bundeskanzler unterbricht kurz seine Rede, Beate Klarsfeld wird von der Polizei abgeführt und danach sofort wieder freigelassen. Ihr wird klar, es muss eine größere Aktion her, und für sie steht fest: "Ich werde ihn ohrfeigen."
Die Gelegenheit lässt ein halbes Jahr auf sich warten: Am 7. November 1968 verschafft sich Beate Klarsfeld mit einer Pressekarte Zugang zum CDU-Parteitag in der Berliner Kongresshalle und ohrfeigt den deutschen Bundeskanzler. Sie wird mit einem Schlag weltberühmt - im wahrsten Sinne des Wortes. Zwar wird Beate Klarsfeld noch an demselben Tag zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, doch ins Gefängnis muss sie nie. Die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. "Es war eine symbolische Aktion der jungen Generation, der Nazi-Kinder gegen die Nazi-Väter", sagt Beate Klarsfeld.
Der Fall Klaus Barbie
Die Mission, Nazi-Verbrecher aufzuspüren und der Justiz zuzuführen, lässt Beate Klarsfeld auch in den Folgejahren nicht los. Gemeinsam stößt das Ehepaar Klarsfeld mit detaillierten Recherchen Verfahren und Verurteilungen gegen mehrere Nazi-Verbrecher an. Darunter ist zum Beispiel der ehemalige Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie. Er zählt zu den brutalsten Kriegsverbrechern der Nazis und war für die Deportation jüdischer Waisenkinder aus Izieu verantwortlich. Nach dem Krieg entkommt er nach Bolivien. Die Klarsfelds decken Anfang der 1970er Jahre seinen Aufenthaltsort auf, doch erst 1983 wird er nach Frankreich ausgeliefert und dort zu lebenslanger Haft verurteilt.
Ein weiterer Fall ist der des SS-Hauptsturmführers Alois Brunner, der die Deportation Zehntausender Juden in die Konzentrationslager organisierte. Ihm gewährte Syrien bis ans Lebensende Unterschlupf und lieferte ihn nie aus. Ein französisches Gericht verurteilt Brunner 2001 in Abwesenheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
"Man musste Nazis gar nicht jagen"
1971 versuchen die Klarsfelds, Kurt Lischka zu entführen. Lischka war im besetzten Frankreich Polizeichef von Paris. Beate und Serge Klarsfeld wollen ihn an die französische Justiz ausliefern, denn die hat ihn für die Deportation von 76.000 Juden in Abwesenheit verurteilt. Die Auslieferung eines deutschen Staatsbürgers an Frankreich kommt jedoch für die Bundesrepublik aufgrund der damals geltenden Rechtslage nicht in Frage. Lischka fühlt sich in Deutschland so sicher, dass er in Köln unter seinem richtigen Namen lebt. Der Entführungsversuch der Klarsfelds misslingt, und Lischka bleibt auf freiem Fuß. Stattdessen muss Beate Klarsfeld für fünf Wochen ins Gefängnis. Erst nach einer Änderung der Rechtslage in Deutschland kann 1980 vor dem Landgericht in Köln gegen Kurt Lischka Anklage erhoben werden - er wird zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Ihre Aktionen seien nie als "Rachefeldzüge" geplant gewesen, sondern sollten das Bestreben nach Gerechtigkeit und dem Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus dienen, sagt Beate Klarsfeld. In der Öffentlichkeit wird sie oft als "Nazi-Jägerin" bezeichnet. Sie selbst lehnt diese Bezeichnung ab. "Man musste Nazis gar nicht jagen, die NS-Verbrecher lebten nach dem Krieg weiterhin unbehelligt in Deutschland."
Für ihren Einsatz und ihren Mut wird Beate Klarsfeld im Ausland bewundert und geehrt. Frankreich zeichnete sie gleich drei Mal aus. Israel verlieh ihr die Tapferkeitsmedaille. Mehrmals wurde sie für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. Die Partei Die Linke nominierte sie 2012 als Kandidatin für die Wahl des deutschen Bundespräsidenten. Sie selbst wertet dies als Würdigung ihrer Lebensleistung bei der Verfolgung von NS-Verbrechern. Beate Klarsfeld hat ihr Leben der dunkelsten Stelle in der deutschen Geschichte gewidmet. Doch noch heute sehen einige Deutschen in ihr nach wie vor "nur" die Frau, die den Bundeskanzler ohrfeigte.