Bayreuths neuer "Tannhäuser" begeistert
26. Juli 2019"Wie, schon vorbei?" Selten wird man sich das nach einer vierstündigen Wagner-Oper fragen. Am Eröffnungstag der Bayreuther Festspiele am 25. Juli mag jedoch mancher Besucher trotz brüllender Hitze in der klimaanlagefreien Zone des Festspielhauses genau dieses Gefühl gehabt haben. Es ging um zentrale Fragen des Lebens: Was ist die Liebe? Was bedeutet Freiheit? Selten wurden sie so kurzweilig behandelt.
Es beginnt mit einer Videosequenz während der Ouvertüre: Ein blonder Vamp in schwarz-glitzerndem Hosenanzug, eine schwarze Drag Queen, ein Clown und ein kleinwüchsiger Mensch touren in einem Minibus durch die Landschaft. Gesetz und Sitte trotzend macht ihnen das anarchische Leben Spaß – bis der Vamp am Steuer einen Polizisten überfährt und ihn verbluten lässt. Das gefällt dem Clown nicht, er möchte aus der Minikommune aussteigen.
Ouvertüre vorbei, Übergang zur Handlung: Der Clown ist Tannhäuser, der Vamp Venus, und die anderen beiden sind Stummrollen: Auf dem Spielzettel heißt der Kleinwüchsige Oskar und trägt eine Blechtrommel – die Anspielung auf den gleichnamigen Roman von Günter Grass ist offensichtlich – die Drag Queen heißt Le Gateau Chocolat. In der Regie von Tobias Kratzer passiert in den ersten Minuten des neuen "Tannhäuser" in Bayreuth eine ganze Menge, mehr sogar als in manch anderer kompletten Operninszenierung.
Wie ist es denn mit der Liebe beschaffen? Das ist die zentrale Frage in Richard Wagners Partitur. Die Handlung, kurz erzählt: Der Minnesänger Tannhäuser weilt im verbotenen Venusberg bei der Liebesgöttin selbst. Er verlässt sie, kehrt zur Wartburg zurück und begegnet seiner früheren Liebe Elisabeth. In einer Art mittelalterlichem Song Contest wird die wahre Natur der Liebe erkundet. Unfähig, die sinnesfeindliche, verlogene Moral der Wartburg-Gesellschaft zu ertragen, offenbart er, dass er an den Genüssen im Reich der Venus teilgenommen hatte. Er wird aus der Gesellschaft verbannt, muss nach Rom ziehen und den Papst um Vergebung bitten. Diese wird verweigert, Tannhäuser wird jedoch durch die Fürbitte Elisabeths erlöst, die sich für ihn opfert.
Ist die Liebe denn unantastbar wie ein Sternenhimmel, rein wie eine Quelle? Oder ist sie sinnlich und körperlich? Gibt es nur Heilige und Huren? Der 39-jährige deutsche Regisseur Tobias Kratzer denkt noch weiter, bei ihm geht es um Freiheit und ihre Grenzen. Und er lässt sich von der Partitur inspirieren.
Venus als Anarchistin
Kratzer stellt Venus als eine Aktivistin dar, die Pamphlete verteilt und Plakate klebt mit einem Spruch Richard Wagners aus der Zeit, in der er Sympathien für anarchische Strömungen hegte: "Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Geniessen". Für Tannhäuser ist diese Freiheit im Reich Venus aber erdrückend. Er geht zur Wartburg, die in dieser Inszenierung als Bayreuther Festspielhaus erscheint.
Venus kann man jedoch nicht so leicht entfliehen – selbst nicht in der Pause nach dem ersten Akt: Am Teich unterhalb des Festspielhauses spielt sie weiter während die Drag Queen Le Gateau Chocolat Madonna-Lieder singt und Oskar in einem Boot im Teich trommelt.
Das geht auch im zweiten Akt auf der Wartburg (sprich: drinnen im Festspielhaus) weiter. Dort dringen die drei lustigen Gesellen ein und mischen die höfische Gesellschaft auf.
Dieser Streich ist sogar in der Partitur legitimiert: In der Handlung kommt die Liebesgöttin im zweiten Akt nicht vor, in der Musik hört man ihre Motive aber doch.
Der ganze zweite Akt findet in einem gigantischen Split-Screen statt: In der unteren Hälfte das Bühnenbild und die Protagonisten, in der oberen: Live-Videosequenzen in Schwarzweiß: Sänger warten nervös auf ihren Eintritt, Bühnentechniker verrichten ihre Arbeit, der Chor stellt sich auf. Später sieht man sogar die Festspielleiterin Katherina Wagner selbst, die am Telefon die Nummer 110 wählt. Die Polizei fährt vor und führt die Eindringlinge um Venus samt Tannhäuser ab.
Keine Erlösung, nirgends
Der dritte Akt spielt auf einer Müllkippe. Die Pilger kehren zurück und wühlen im Krempel, Tannhäuser ist nicht dabei. Verzweifelt und trostlos hat Elisabeth Geschlechtsverkehr mit dem Minnesänger Wolfram, stirbt dann in ihrem Minibus. Tannhäuser kehrt tatsächlich zurück, aber zu spät. Durch die Erinnerung an Elisabeth lässt er Venus links liegen. Zwischen Tannhäuser, Wolfram und Oskar entsteht in der gemeinsamen Trauer um Elisabeth eine gewisse menschliche Nähe.
Es ist zwar eine vollkommen trostlose Deutung der romantischen Erzählung Richard Wagners. Sie passt aber auch irgendwie zur unschlüssigen Haltung des Komponisten selbst, der mit dem Werk unzufrieden war, es mehrfach umarbeitete und am Ende seines Lebens erklärte: "Ich schulde der Welt noch einen 'Tannhäuser'."
Und die Musik …
Alle drei Akte wurden im Bayreuther Festspielhaus stürmisch bejubelt; ein Teil des Publikums stand sogar auf. Den stärksten Applaus gab es für die norwegische Sopranistin Lise Davidsen als Elisabeth, für die russische Sopranistin Elena Zhidkova als Venus, den amerikanischen Tenor Stephen Gould in der Rolle des Tannhäuser und für Markus Eiche als Wolfram von Eschenbach.
Am erstaunlichsten war die Leistung, gesanglich und schauspielerisch, von Elena Zhidkova: Schier unglaublich, wie die stimmstarke Russin die Rolle beherrschte, vor allem weil sie kurzfristig eingesprungen war. Starken Applaus gab es auch für das Regieteam und für die brillant spielenden Statisten Le Gateau Chocolat (sie spielte sich selbst) und Manni Laudenbach als Oskar.
Es war insgesamt eine Besetzung ohne Fehl und Tadel, was auch für die musikalische Leitung gilt: Noch nie hat dieser Reporter das Vorspiel zu "Tannhäuser" einfühlsamer und die ganze Oper intelligenter gestaltet erlebt. Dass der russische Star-Dirigent Valery Gergiev als Einziger stark ausgebuht wurde schien schier unbegreiflich bis der Sitznachbar, ein Musikjournalist aus Russland, erklärte: Das habe sicherlich mit Gergievs Nähe zum russischen Präsidenten Putin zu tun.
Ein Klischee kommt in den Sinn, das man so oft am Grünen Hügel gehört hat. Wenn dem Regisseur wenig einfällt, heißt es: Dann hat man den Kopf frei für die Musik. Oder wenn viel auf der Bühne geschieht: Das lenkt dann von der Musik ab.
Richard Wagner hat jedoch kein Nullsummenspiel aufgesetzt, sondern ein Gesamtkunstwerk gefordert. Und in diesem Sinne hat das Team Kratzer/Gergiev etwas ziemlich Vollkommenes geliefert.