Bauarbeiten an Notre-Dame starten wieder
27. April 2020Jean-Didier Mertz steht neben einer Palette von Steinblöcken. Sie sind mit Cellophan umwickelt, manche haben dunkle Flecken: Spuren von Blei. Deshalb dürfe man sie auch nicht anfassen oder bewegen, warnt Mertz. Die Brocken stammen aus dem eingestürzten Mauerwerk der berühmten Notre-Dame.
Am 15. April 2019 verfolgte die ganze Welt live im Fernsehen, wie das Wahrzeichen von Paris, die Kathedrale Notre-Dame, in Flammen aufging.
Feuerwehrmänner versuchten verzweifelt, zu retten, was zu retten war. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron verkündete kurz danach in einer Fernsehansprache: "Wir werden die Notre-Dame noch schöner wieder aufbauen. Und ich will, dass sie in fünf Jahren fertig ist".
Seitdem sind Architekten, Ingenieure, Archäologen, Naturwissenschaftler und Kunsthistoriker mit Hochdruck damit beschäftigt, zu untersuchen, welchen Schaden das Feuer an der 850 Jahre alten Kathedrale angerichtet hat.
Noch keine endgültige Schadensbilanz
Der Geologe Jean-Didier Mertz und sein Team vom "Laboratoire de recherche des monuments historiques" (LRMH), einem der renommiertesten Forschungslabore Frankreichs, stehen seit einem Jahr beim Wiederaufbau der Kathedrale Notre-Dame beratend und forschend zur Seite.
Die Steinblöcke haben sie zu Forschungszwecken aus Paris an ihren Standort im Vorort Champs-sur-Marne, circa 50 Kilometer von Paris entfernt, transportiert. Nun ist Mertz' Expertise gefragt, um ihren Zustand zu beurteilen.
Wie haben die Steine die sehr hohen Temperaturen des Feuers ausgehalten? Wurden sie beschädigt? Sind sie wiederverwendbar? "Es gibt die Steinbrüche heute nicht mehr", sagt er. "Wir wollen versuchen, neue mit identischen Materialien finden. Außerdem müssen wir anhand unserer Untersuchungen herausfinden, wie der Zustand der in der Kathedrale verbliebenen Steine ist."
Deshalb will Mertz mehr über den Mörtel wissen, der damals verwendet wurde. "Er ist 850 Jahre alt und hat Jahrhunderte überdauert. Wir wollen herausfinden, woraus er besteht, damit wir ihn wiederherstellen können, auf die gleiche Art und Weise wie damals."
Steine von Notre-Dame erzählen
Die Geologen, Chemiker, Ingenieure oder Mikrobiologen vom LRMH sind normalerweise in ganz Frankreich tätig. Ihre Aufgabe besteht darin, wissenschaftliche und technische Unterstützung bei der Erhaltung und Restaurierung historischer Denkmäler zu leisten.
Die Experten haben verschiedene Forschungsgebiete: Stein, Holz, Beton, Metall, Textilien. Sie geben Empfehlungen für die bestmögliche Restaurierung eines Bauwerks. Seit dem Brand von Notre-Dame beschäftigen sich Mertz und seine Kollegen nur noch mit der beschädigten Kathedrale. Gibt es schon erste Ergebnisse? "Nein", bedauert Mertz, "wir können noch keine endgültigen Resultate liefern".
Als erstes wird das LRMH eine Anleitung erarbeiten, die den Restauratoren helfen soll, die Steinbrocken behutsam zu säubern. "Sie dürfen das Blei nicht einfach abkratzen. Sonst gehen wichtige Informationen verloren."
Jeder Steinbrocken ist wertvoll
Rund 800 Paletten solcher Steine lagern derzeit auf dem Vorplatz von Notre-Dame. Von einem so symbolträchtigen Denkmal wird kein Bröckchen Schutt auf die Müllkippe gebracht. Alles wird katalogisiert, analysiert und aufbewahrt.
Auch wenn Mertz noch nicht sagen kann, ob die Steine, die er untersucht, für den Wiederaufbau von Notre-Dame zum Einsatz kommen werden, so hat er bei seiner Arbeit doch schon einiges Neues erfahren. "Es gab einige architektonische Überraschungen. Wir haben entdeckt, dass beim Querschiffsübergang, dort wo im 19. Jahrhundert Viollet-le-Duc den Vierungsturm errichten ließ, Doppelbögen montiert wurden, um das Gebäude zu stützen."
Solche Geheimnisse zu lüften, lässt die Forscherherzen schneller schlagen. Doch beim Wiederaufbau geht es nicht nur um die Vergangenheit, sondern auch um die Zukunft.
Schwere Bleibelastung auf dem Baumaterial
Ein echtes Problem für den Wiederaufbau ist auch ein Jahr nach dem Brand das Blei. Mehr als zweihundert Tonnen wogen die fünf Millimeter dicken Dachplatten, die beim Brand geschmolzen sind. Dazu kamen weitere 250 Tonnen von dem ganz in Blei gefassten Vierungsturm des Restaurationsarchitekten Eugène Viollet-le-Duc aus dem 19. Jahrhundert.
Noch während die Flammen loderten, ist alles Transportierbare aus der Kathedrale geholt und in Sicherheit gebracht worden. Neun Tage nach dem Brand wurden auch die Fenster ausgebaut. Eine langwierige Arbeit. Immerhin gibt es in Notre-Dame fast 1000 Quadratmeter Glas. An Stelle der Fenster klaffen nun schwarze Löcher.
Claudine Loisel, Chemikerin und Expertin der Glasmalereiabteilung des LRMH, war dabei und hat die Arbeiten genauestens beobachtet. "Den Fenstern geht es gut", sagt sie erleichtert. "Das Gewölbe hat seinen Dienst erfüllt". Wie ein Schutzschild habe es die Fenster vor den Flammen bewahrt. "Und die Feuerwehrmänner haben sich exakt an den Notfallplan gehalten. Dadurch konnte ein Thermoschock verhindert werden, das heißt eine schnelle, schockartige Veränderung der Temperatur auf der Oberfläche der Fenster".
Fenster der Kathedrale sind weitgehend unzerstört
Auch die Fenster sind vom Blei belastet. Die schwarze Schicht auf dem Glas sei so giftig, dass Claudine Loisel einen Schutzanzug mit Mundschutz und Brille tragen muss, wenn sie ihre Untersuchungen durchführt.
Deshalb sitzen wir vor dem Computer in ihrem kleinen Büro. Bilder mit dem Grundriss der Kirche sind auf dem Monitor zu sehen. Sie erzählt, wie froh sie war, als sie einen Tag nach dem Brand die Kathedrale betreten hat. "Als wir sahen, dass sich die Fenster recht problemlos aus dem Mauerwerk lösen ließen, alles hielt, nichts zerstört war, und das Glas nicht gleich in tausend Scherben zerbrach, waren wir überglücklich."
Die Fenster sind gerettet, aber was ist mit dem Gemäuer von Notre-Dame? Immer wieder kursierten Gerüchte, dass die Statik unter dem Brand gelitten habe und die Kathedrale einsturzgefährdet sei.
Die größten Probleme bereitet noch immer die Demontage des Baugerüsts. Es war bereits vor dem Brand aufgebaut worden, um den Vierungsturm zu restaurieren. Der aber ist eingestürzt, doch das Gerüst ist stehen geblieben. Um es abbauen zu können, musste zunächst das gesamte Strebewerk durch Holzbalken verstärkt werden.
Verwegene Entwürfe für die neue Notre-Dame
Die Metallstäbe des Gerüsts wurden durch die Hitze der Flammen ineinander verklumpt. Viele Monate lang war das Wetter zu schlecht, um mit dem Abbau zu beginnen. Und jetzt kommt auch noch die Corona-Krise dazwischen. Alle Arbeiten sind zum Stillstand gekommen.
Einen maximalen Zeitraum von fünf Jahren hatte Macron den Franzosen versprochen, um Notre Dame schöner als zuvor wieder zurückzubekommen. Einige berühmte Architekten haben darauf eigene Entwürfe eingereicht: Notre-Dame mit Glasdach, Notre-Dame mit einem Swimmingpool auf dem Dach, Notre-Dame mit Urban Gardening auf dem Dach. Wohl keiner dieser Vorschläge wird es je zur Umsetzung schaffen. Ein Architektenwettbewerb wird erst im Juni 2020 ausgeschrieben.
"Man muss sich keine Sorgen machen, dass es in Notre Dame einen Swimmingpool, ein Freilufttheater, ein transparentes Dach oder etwas Ähnliches geben wird. Ich glaube, die Kathedrale Notre-Dame wird mit viel Respekt vor Ihrer Bedeutung und ihrer Geschichte in neuem Glanz wieder auferstehen", sagt Aline Magnien, die Direktorin des LRMH.
Mit dem Wiederaufbau soll 2021 begonnen werden. Knapp eine Milliarde Euro von rund 320.000 Spendern sind dafür zugesagt und bereitgestellt worden. Am Jahrestag der Brandkatastrophe, dem 15. April 2020, hatte Staatspräsident Emmanuel Macron noch einmal bekräftigt, Notre-Dame in fünf Jahren wieder zu eröffnen. Nach einer Corona-Pause beginnen die Bauarbeiten nun wieder und stehen nun unter einem strengen Sicherheits- und Hygienekonzept. Am heutigen Montag, (27. April) sollen zunächst nur zehn Arbeiter auf die Bedingungen für den Neustart schaffen, berichtet die französische Tageszeitung "Le Figaro". Am 4. Mai sollen dann etwa 50 Arbeiter auf die Baustelle zurückkehren; zuletzt arbeiteten 170 Menschen dort. Auch das LRMH in Champs-sur-Marnes musste während des Lockdowns in Frankreich seine Arbeit niederlegen. Dort werden nun die Wissenschaftler in zwei Wochen wieder in die Labore zurückkehren.
Redaktioneller Hinweis: Diese Reportage wurde am 27.04.2020 aktualisiert. Der Besuch im LRMH fand vier Tage vor dem Corona-Lockdown im März 2020 statt.