Geschlechtertausch im Bolschoi-Ballett
26. März 2021Ein leichter Schreck gleich zu Beginn: Elisabeth die Erste, die Königin von England, ist … ein Mann! Aber der Schreck lässt schnell nach, denn wir sehen keine Dragqueen, die im royalen Gewand auf die Bühne tritt, keinen Klamauk und keine Parodie, sondern die würdige Verkörperung einer starken Frau, einer Königin, die den jungen androgynen Dichter Orlando liebt. Und der wiederum … wird von einer Frau verkörpert.
Der deutsche Choreograf Christian Spuck interpretiert Virginia Woolfs "Orlando" von 1928 am Bolschoi-Theater, der wichtigsten Ballettbühne Russlands, konsequent als ein Spiel der Geschlechter. Der weltberühmte Klassiker handelt von einem britischen Lord, der sich auf wundersame Weise in eine Frau verwandelt.
Christian Spuck, seit 2012 Direktor des Balletts Zürich, zählt zu den wichtigsten Choreografen der jüngeren Generation. Spielerisch setzt er sich nun in dieser Ballett-Weltpremiere mit der Frage der Identitäten auseinander und hinterfragt dabei die Rollen von Mann und Frau in der Gesellschaft.
Tänzerische Provokation?
In einem Land, das auf traditionelle, ja konservative Werte setzt, in dem das Wort Geschlechtsumwandlung für viele ein Schimpfwort ist, in dem 43 Prozent der Einwohner laut einer Studie von 2020 sich bereits durch die bloße Existenz von Transfrauen und -männern beleidigt fühlen, in diesem Land wirkt die Geschichte von der zauberhaften Verwandlung des jungen Orlando in eine Frau fast wie eine Provokation.
Aber: "Es ist keine Provokation. Zumindest habe ich das nicht vor", versichert Spuck im Interview mit der DW. "Das ist nicht die Idee. Sondern wir gehen sehr poetisch damit um, dass ein Mann eine Königin darstellt, oder dass Orlando von einer Frau getanzt wird."
Und "Orlando" ist mehr. Die Handlung gleicht hier eher einem Traum als der Realität. Erst ein Er, dann nach der Geschlechtsumwandlung eine Sie, lebt mehr als dreihundertfünfzig Jahre, ohne dabei zu altern. Das gibt den Darstellern eine ganze Palette an ausdrucksstarken Charakteren.
Theater geöffnet mit 50-prozentiger Auslastung
Für diese Wandlungsfähigkeit liebt die Bolschoi-Solotänzerin Olga Smirnova ihre Figur. Gegenüber der DW gesteht sie: "Ich habe diesen seltsamen Roman von Virginia Woolf nicht sofort verstanden." Der Findungsprozess sei daher sehr lang gewesen. "Der Choreograf wollte, dass ich natürlich wirke und nicht vergesse, dass ich eine Frau bin, obwohl ich einen Mann spiele. Daran habe ich immer gedacht, trotz aller Schwierigkeiten", so die Primaballerina.
Schwierigkeiten gab es aber nicht nur im Theater, sondern auch draußen. Auch Russland steckt mitten in der Corona-Pandemie. Mit 4,5 Millionen Infizierten steht das einwohnerstarke Land weltweit auf Platz vier, davon fallen allein rund eine Millionen auf die Hauptstadt Moskau. Die 7-Tage-Inzidenz ist jedoch mit 43,7 (Stand 26.03.2021) recht niedrig, und so wurden fast alle Beschränkungen mittlerweile aufgehoben. Bars, Clubs und Restaurants sind geöffnet. Und Theater.
"Mich selber hat es auch erwischt", klagt Choreograf Spuck, der sich in der dritten Woche seines Aufenthalts in Moskau mit dem Coronavirus infizierte und drei Wochen in Isolation in seinem Hotelzimmer bleiben musste. "Ich bin jetzt aber immun, das heißt geschützt von der Krankheit", scherzt der 51-Jährige und fügt hinzu: "Für einen Europäer ist es schon ein ungewohntes Bild, wenn trotz der Pandemie alles offen ist. Aber es ist die Entscheidung des Landes hier, sich so zu verhalten. Dementsprechend fälle ich meine eigene Entscheidung, hier trotzdem weiter viel Abstand zu den Mitarbeitern zu halten und vorsichtig zu sein." Sein Ballett in Zürich befindet sich derzeit noch im Lockdown.
Weltpremiere in Corona-Zeiten
Mit dem preisgekrönten Choreografen ist dem Bolschoi eine große internationale Produktion inmitten in der Pandemie gelungen, coronabedingt mit einer maximalen Auslastung von 50 Prozent der Sitzplätze. Gleichzeitig profitiert auch Christian Spuck von der Bolschoi-Kaderschmiede des klassischen Balletts: "Meine Sprache kommt immer aus dem klassischen Ballett. Das heißt, ich respektiere die Tradition des Bolschois auf allen Ebenen. Ich bin ein ganz großer Bewunderer der Compagnie und auch dieses Hauses."
Am Ende gibt es Standing Ovations für "Orlando" und die Erkenntnis, dass es ein Stück über Raum und Zeit ist. Und darüber, dass man das Hier und Jetzt, gleich in welcher Rolle, schätzen soll. In unbeständigen Corona-Zeiten wirkt dieses Ballett aktueller denn je.