"Deutschland ist Erdogans bestes Feindbild"
15. September 2017DW: Der türkische Präsident Erdogan besitzt eine kaum mehr beschränkte Machtfülle. Diese, schreiben Sie in Ihrem Buch, sei nicht aus dem Nichts entstanden.Wie kam es dazu?
Baha Güngör: Die Vorgeschichte reicht 50 bis 60 Jahre zurück. Die modernen laizistischen Kreise in der Türkei haben sich immer wieder auf die Armee verlassen. Wurde es kritisch, stand das Militär bereit, das Land zu ordnen. In dieser Selbstsicherheit hat man die Nöte vor allem der Landbevölkerung nicht angemessen wahrgenommen. Man hat sie etwa zu Billiglöhnen arbeiten lassen und nicht richtig versichert. Die Dominanz der kemalistischen Eliten hat dann dazu geführt, dass sich die religiösen Kräfte immer weiter verstärkt haben. Diese Kräfte hat Erdogan dann für sich arbeiten lassen. Und man kann davon ausgehen, dass er die Türkei bis zu seinem Tod beherrschen wird.
Wozu will Erdogan diese Macht nutzen?
Wir Europäer befürchten ja immer wieder, dass sich die Türkei in einen Scharia-Staat oder sogar in einen religiösen Gottesstaat verwandelt. Das halte ich für unwahrscheinlich, denn das wird Erdogan mit den Türken nicht machen können. Aber die europäischen Werte, auf die er sich früher bezog, braucht er nun nicht mehr. Das liegt auch an den Europäern, die immer wieder ankündigen, die EU-Beitrittsverhandlungen abzubrechen, da die Türkei undemokratisch sei. Genau das strebt er an: dass die Europäer den Prozess beenden. Dann kann er sich ganz neuen Zielen widmen. Jetzt versucht er etwa, neue Bündnisse mit Russland und China zu schließen. Damit würden sich riesige Märkte öffnen, rund ein Drittel der Weltmärkte überhaupt. Darauf konzentriert er sich im Moment. In ideologischer Hinsicht macht er zwar sehr viel, was bei religiösen Menschen gut ankommt. Aber einen Scharia-Staat wird es in der Türkei nicht geben.
Strebt er diese Beziehungen an, weil es mit der EU nicht weitergeht?
Es ist eine Alternative. De facto wird es mit der EU nicht weitergehen, denn für deren zentrale Forderungen - etwa Demokratie und Rechtsstaat - interessiert er sich nicht. Denn dann könnte er nicht durchregieren. In einem seiner letzten Dekrete hat er die Untersuchungshaft ganz nebenbei von fünf auf sieben Jahre verlängert. Er hat sich den Geheimdienst untergeordnet. Zugleich kann dieser nun in allen Institutionen des Staates ermitteln. Außerdem ist der Geheimdienst praktisch gegen juristische Verfolgung immun. Denn einer Verfolgung muss Erdogan nun zustimmen. Das wird er kaum tun. Absehbar wird er auch den Ausnahmezustand nicht aufheben.
Zugleich aber treibt Erdogan die Islamisierung der Türkei voran. Sie erwähnen in Ihrem Buch einen Erlass, demzufolge nun Kommunen ab 5000 Einwohnern das Recht auf Religionsschulen haben. Vorher hatten dieses Recht Kommunen ab einer Größenordnung von 50.000 Einwohnern. Wozu dient ein solches Vorgehen?
Es geht darum, die Menschen hinter sich zu versammeln. Über diese Schulen kann man sehr viele Menschen ansprechen. Sie halten die Menschen dazu an, ihre Religion tiefgründig im Alltag zu leben. Er wendet sich aber auch an andere Bevölkerungsgruppen. Dass nun etwa die Todesstrafe wieder eingeführt werden soll, ist ein Köder für die Rechtsnationalisten. Damit hat er sie geködert - und sich ihre Zustimmung zur Verfassungsänderung geholt.
In Ihrem Buch skizzieren Sie die lange Geschichte der türkisch-deutschen Beziehungen. Die sind derzeit sehr belastet. Wie sollte Deutschland sich verhalten?
In Deutschland sollte man nicht auf alles eingehen, was Erdogan so in den Raum wirft. Erdogan sucht immer ein Feindbild. Das beste Feindbild ist für ihn derzeit Deutschland, weil hier die meisten türkischstämmigen Menschen außerhalb der Türkei leben. Die ständigen Vorwürfe an die Adresse Deutschlands dienen dazu, dieses zu kultivieren. Früher war dieses Feindbild Griechenland. Deshalb wird er wohl auch in Zukunft Deutschland immer wieder attackieren. Aber Deutschland sollte nicht über die Türkei debattieren - etwa die Frage, ob die Türkei noch zur EU gehört, ob man die Beitrittsfragen abbricht etc. Denn genau das will Erdogan ja. Er greift Deutschland immer wieder an, damit die Deutschen diesen Fehler machen und die Türkei ganz abschreiben.
Was spräche dagegen?
Dagegen spräche, dass in der Türkei immer noch rund 50 Prozent der Bürger auf die EU als Garant einer laizistischen Türkei hoffen. Würde man die Türkei abschreiben, fiele für sie diese Hoffnung weg. Und das wäre ein Verrat Europas an den demokratisch gesonnenen Türken.
Das hieße aber auch: Käme es zu einem EU-Beitritt, hätte die EU rund 40 Millionen Neubürger, an deren demokratischer Gesinnung größte Zweifel bestünden. Können die Europäer das wirklich wollen?
Es ist ein Trugschluss, anzunehmen, dass die Türkei in absehbarer Zukunft EU-Mitglied wird - das ist mitnichten der Fall. Die Türkei wird innerhalb der nächsten zehn, zwanzig Jahre nicht Mitglied der EU. Aber es geht um das Prinzip. Man darf die Türkei nicht einfach abschreiben. Denn von den 33 Beitrittskapiteln ist erst eines abgeschlossen, nämlich das zu Wissenschaft und Forschung. Das war im Jahr 2006. Alle anderen Kapitel sind noch im Screening oder werden von anderen Staaten - etwa Zypern - blockiert. Einige sind auch noch überhaupt nicht in Angriff genommen worden. Aber die nächsten Kapitel sind die über Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, Meinungsfreiheit etc. Über diese Kapitel wird man sprechen müssen. Wenn die Türkei tatsächlich EU-Mitglied werden will, muss sie Farbe bekennen. Dazu muss man die Türkei in Beitrittsverhandlungen zwingen. Wenn man sie aber abschreibt, heißt es, Europa wolle die Türkei nicht, die Europäer wollten sich mit den Türken nicht einmal über Menschenrechte unterhalten. Es ist einfach, viele Menschen hinter sich zu sammeln, indem man andere Nationen angreift und etwa als Nazis diffamiert. Die Deutschen haben ein Problem mit ihrer Vergangenheit. Und das nützt Erdogan aus.
Baha Güngör ist Journalist und Publizist. Bis 2015 leitete er die türkische Redaktion der Deutschen Welle. Am 14. September erschien im Dietz-Verlag sein Buch "Atatürks wütende Enkel. Die Türkei zwischen Demokratie und Demagogie".
Das Gespräch führte Kersten Knipp.