Außenseiter erhält Deutschen Buchpreis
13. Oktober 2015Ungläubiges Staunen im Gesicht von Frank Witzel. Den Deutschen Buchpreis 2015 hat nicht Jenny Erpenbecks immer wieder als Favorit gehandelter Roman "Gehen, ging, gegangen" gewonnen, eine berührende Annäherung an den Umgang mit Flüchtlingen. Nein, zum Buch des Jahres hat die Jury sein Opus Magnum "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" gekürt. Ein Buch so maßlos wie sein Titel, mit einem Gewicht von einem Kilo und mit 99 Kapiteln, in denen sich so ziemlich alle gängigen Textsorten tummeln - von Miniportraits über Kurzbiographien und Dialoge bis hin zu Verhören, die Wirklichkeit erweiternden Wahnvorstellungen und theoretischen Reflexionen.
15 Jahre hat der 1955 in Wiesbaden geborene Musiker und Schriftsteller Frank Witzel an dieser Wundertüte gearbeitet, in der er die 1960er Jahre in der untergegangenen alten Bundesrepublik aus immer neuen Blickwinkeln betrachtet, mit allen Sinnen und Facetten aufsaugt und einfängt.
Deutsche Mentalitätsgeschichte
Sein Titelheld und Erzähler ist im Sommer 1969 gerade einmal 13 Jahre alt und strengt sich gehörig an, die komplizierte, weil unübersichtlicher werdende Welt im eigentlich überschaubaren Wiesbaden-Biebrich zu verstehen. Er gründet eine Clique, die sich "Rote Armee Fraktion" nennt, das Logo vom örtlichen Turnverein kopiert, über Popmusik streitet, in geklauten Autos durch die Gegend düst und plant, den örtlichen Kiosk mit Wasserpistolen zu überfallen.
Und dann muss dieser Junge im Fernsehen mit ansehen, dass seine Clique eine ernste, mit scharfer Munition schießende Konkurrenz bekommt. In seinem Kopf macht er sich einen ganz eigenen Reim auf die neue deutsche RAF-Wirklichkeit, flüchtet sich in Phantasien und in bedeutungsschwere Beatmusik, bricht schließlich zusammen und landet in einem Sanatorium, in dem - Eisenbahnfreunde aufgepasst - die Fachkräfte Dr. Märklin und Fleischmann hart an seiner Genesung arbeiten.
"Frank Witzels Werk", urteilt die Jury des Deutschen Buchpreises, "ist ein im besten Sinne maßloses Romankonstrukt". Denn in die Geschichte vom Erwachsenwerden des Jungen aus der Provinz ist zudem das politische Erwachen der alten Bundesrepublik eingewoben, die beginnt, sich vom Muff der unmittelbaren Nachkriegszeit zu befreien. Ein Buch, das zum Schwärmen verleitet, ist es doch ein furioser Versuch der Weltaneignung mit den Mitteln der Phantasie und eine unglaublich witzige Mentalitätsgeschichte der alten Bundesrepublik, in der Vorlieben und Merkwürdigkeiten der Wirtschaftwunderjahre ihren verdienten Auftritt haben – vom Geha-Füller bis zum Cottanova-Hemd und den Fix und Foxi-Heften. Die Länge der Sätze ändert sich schneller als das Wetter, und der Leser fliegt durch die Zeiten, dass es nur so rauscht. Denn natürlich erzählt Witzel alles andere als chronologisch! Lesen muss man dieses Buch am besten sowieso mehrfach, um alles zu entschlüsseln und um auseinander zu nehmen, was da so hintersinnig zusammengefügt wurde.
In jeder Hinsicht preiswürdig
"Die Mischung aus Wahn und Witz, formalem Wagemut und zeitgeschichtlicher Panoramatik ist einzigartig in der deutschsprachigen Literatur", lautet das Urteil der Jury. Eine schönere Aufforderung zum Lesen gibt es kaum!
Der Deutsche Buchpreis für den besten Roman in deutscher Sprache wird jährlich zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse im Kaisersaal des Frankfurter Römers verliehen und ist mit insgesamt 37.500 Euro dotiert: Der Preisträger erhält 25.000 Euro, die übrigen fünf Autoren der Shortlist erhalten jeweils 2500 Euro. Ausgeschrieben ist er vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung. Der Preis soll über Ländergrenzen hinweg Aufmerksamkeit für deutschsprachige Autoren schaffen.
Die unabhängige Jury hat in den vergangenen fünf Monaten 199 eingereichte Neuerscheinungen gesichtet, auf ihre Shortlist geschafft hatten es neben Frank Witzels „Die Erfindung...“ (Matthes & Seitz) die Romane von Jenny Erpenbeck "Gehen, ging, gegangen" (Verlag Knaus, August 2015), Rolf Lappert "Über den Winter" (Carl Hanser), Inger-Maria Mahlke "Wie Ihr wollt" (Berlin Verlag), Ulrich Peltzer "Das bessere Leben" (S. Fischer) und Monique Schwitters "Eins im Andern" (Droschl).