Armes, reiches Deutschland
2. März 2017Wann ist in Deutschland jemand arm? Wenn es am Monatsende nur noch Nudeln, und das im Preis um die Hälfte reduzierte Brot vom Vortag zu essen gibt? Wenn ein Kind sein einziges Paar Schuhe weiter tragen muss, obwohl sie nicht mehr passen? Wenn ein Rentner Pfandflaschen in Mülltonnen sucht? Wenn ein Mensch obdachlos ist und unter Brücken schlafen muss?
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes bringen solche Fragen in Rage. Seit einiger Zeit werde "sehr unverblümt der Versuch unternommen, Armut auf Elend zu reduzieren". Eine Definition, die er auf keinen Fall gelten lassen will. Arm ist für Schneider, wer sich auf Grund unzureichenden Einkommens nicht leisten kann, was für einen Normalverdiener und seine Familie alltäglich ist. Sei es, mit der Familie ins Kino zu gehen, in den Urlaub zu fahren oder sich einen neuen Fernseher zu kaufen. "Wenn Menschen nicht mehr mithalten können, gezwungen werden, sich zurückzuziehen, faktisch ausgegrenzt oder abgedrängt werden."
Arbeitslos, alleinerziehend, auf der Flucht
Auf der Grundlage dieser Definition sieht der Paritätische Gesamtverband die Armut in Deutschland auf einem neuen Höchststand angelangt. Laut seinem gemeinsam mit dem Deutschen Kinderhilfswerk, Pro Asyl, Volkssolidarität und anderen Sozialverbänden in Berlin vorgelegten Armutsbericht waren im Untersuchungszeitraum 2015 fast dreizehn Millionen Menschen arm. Das sind 15,7 Prozent der Bevölkerung.
Besonders betroffen seien bestimmte Personengruppen. Arbeitslose beispielsweise, Alleinerziehende und deren Kinder, alte Menschen, Migranten, chronisch Kranke und Behinderte. In Zukunft kämen noch die Flüchtlinge dazu. "Wenn sie nach ihrer Anerkennung die Auffanglager verlassen und einen eigenen Hausstand gründen, dann werden sie auch in die Statistik eingehen", so Schneider. Dafür müssten sie aber erst einmal eine Wohnung finden, was gerade in Ballungsräumen oft nicht gelinge.
Mehr Obdachlose in Deutschland
Schätzungen zufolge sind 335.000 Menschen in Deutschland wohnungslos. Diese Zahl könnte sich bis 2018 auf eine halbe Million erhöhen, warnt die stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe Werena Rosenke. Je geringer das Einkommen sei, desto höher falle der Wohnkostenanteil aus. Gerade in den unteren Einkommensgruppen verfestige sich die Armut immer mehr. "Einkommensarme Menschen geraten deswegen oft in eine Verschuldungsspirale, an deren Ende auch der Wohnungsverlust stehen kann."
Der Armutsbericht fußt auf dem Konzept der sogenannten "relativen Einkommensarmut", mit der auch das Statistische Bundesamt arbeitet. Danach gelten Haushalte, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen, als armutsgefährdet. Das ist der Wert, von dem aus betrachtet es genauso viele höhere Einkommen gibt wie niedrigere. 2015 lag die Armutsschwelle etwa bei 942 Euro für Singles und bei 1.978 Euro für Paare mit zwei Kindern unter 14 Jahren. Dabei handele es sich "um das gesamte Nettoeinkommen des Haushaltes, inklusive Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag, anderer Transferleistungen oder sonstiger Zuwendungen", so heißt es im Armutsbericht.
Armut ballt sich in der Stadt
Ein Wert, den Kritiker als viel zu pauschal ablehnen. Denn mit 942 Euro lässt es sich in einer ländlichen Gegend, wo die Mieten niedrig sind, sicherlich sehr viel auskömmlicher leben als in einer Großstadt oder einem anderen Ballungsgebiet. "Es wäre sinnvoll, die regionalen Unterschiede bei der Kaufkraft einzubeziehen und stärker auf die Bedürftigkeit es Einzelnen zu schauen", sagt Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Wer in München weniger als 1128 Euro verdiene, sei durchaus armutsgefährdet. Im bayerischen Tirschenreuth beginne das Armutsrisiko aber erst ab 823 Euro abwärts.
Vor "undifferenzierten Bewertungen" warnt auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund. Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg rechnet vor, dass von den rund 2,8 Millionen Studenten in Deutschland Hunderttausende mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens auskommen müssten. Sie seien aber keineswegs gesellschaftlich abgehängt, sondern zumeist besonders aktiv und sähen sich zu Recht als die zukünftige Leistungselite.
Armut muss messbar sein
Kritisiert wird auch, dass sich eine relative Einkommensarmut im Grunde genommen nie auflösen kann. Denn eine Gesellschaft kann so reich werden, wie sie will, es wird immer Menschen geben, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdienen. Würden alle Bundesbürger über Nacht das Doppelte verdienen, bliebe die statistische Armutsquote trotzdem unverändert bestehen.
Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband hält dennoch am derzeitigen Konzept fest. Wenn man regionale Armutsquoten berechne, führe das zu verzerrten Ergebnissen. "Wenn ich bestimmte Viertel in Berlin berechnen würde, dann gäbe es faktisch kaum Armut, denn im Armenhaus gibt es keine relative Armut." Es müsse einen Vergleichswert geben und der sei der durchschnittliche Wohlstand in ganz Deutschland.
Im Discounter sind die Preise gleich
Der Versuch, die Kaufkraft mit einzuberechnen, sei "durchaus löblich", aber nicht ausgereift. Dafür brauche man aktuelle Warenkörbe in allen Regionen und die gebe es nicht. "Wenn das Institut der deutschen Wirtschaft das trotzdem hochrechnet, dann sind das sehr gewagte statistische Hochrechnungen, an denen wir uns nicht beteiligen wollen." Außerdem zeige die Erfahrung, dass sich die Lebensführung unter armen Menschen anpasse. "Arme wohnen nicht in Wohnungen mit normalen Mietpreisen und sie gehen nur im Discounter einkaufen, dessen Preise bundesweit gleich sind."
Um die Armut in Deutschland zu bekämpfen, fordern die Sozialverbände Änderungen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, aber auch mehr Geld für Kindergärten, Schulen und vor allem den sozialen und öffentlichen Wohnungsbau. Zudem müssten die Altersgrundsicherung und die Rente reformiert werden, um Altersarmut wirksam vorzubeugen.