Mehr arme Kinder im reichen Deutschland
12. September 2016Was braucht es für eine gute, gar glückliche Kindheit? Anders als in vielen Ländern der Welt mangelt es in Deutschland - zum Glück - nicht am Überlebensnotwendigen. Etwas zu essen, ein Dach über dem Kopf, Winterkleidung, Medikamente, kostenloser Schulbesuch - diese Grundbedürfnisse sind hier selbstverständlich.
Doch auch in Deutschland wachsen zunehmend viele Kinder auf, die - verglichen mit den allgemeinen Lebensumständen - als arm gelten. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie, die von der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht wurde. Darin heißt es: Fast zwei Millionen arme Kinder leben heute in Deutschland - mehr als noch vor fünf Jahren. Als arm gelten Kinder, deren Eltern arbeitslos sind und deshalb auf staatliche Grundsicherung, den sogenannten "Hartz IV-Betrag", angewiesen sind. Die Daten stammen aus Statistiken der Bundesagentur für Arbeit sowie einer Langzeitstudie zu Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche.
Kein eigenes Zimmer, keine gesunden Zähne
Aber was bedeutet "Kinderarmut" in einem der reichsten Länder der Welt? "Die betroffenen Kinder müssen auf vieles verzichten", fasst es Anette Stein im Gespräch mit der DW zusammen. Sie ist Expertin für Familienpolitik bei der Bertelsmann Stiftung.
Der Verzicht beginnt beim Wohnen: Arme Kinder haben häufig kein eigenes Zimmer - und damit keinen Rückzugsort etwa für Schularbeiten. Sie ernähren sich schlechter, weil statt Obst und Gemüse häufiger Fast Food auf den Tisch kommt. Unter anderem dadurch sind sie öfters krank. Hinzu kommt: Kinder aus armen Elternhäusern sind häufiger "sozial isoliert", wie es in der Studie heißt. Es fehlt zum Beispiel Geld für Schulausflüge, Sportvereine oder Musikunterricht.
Teufelskreis Armut
All das wirkt sich vor allem negativ auf Bildungschancen aus. "Ihre gesamte Bildungsbiografie verläuft deutlich problematischer als bei Kindern, die in gesicherten Einkommensverhältnissen leben", so Familienpolitik-Expertin Stein.
Einmal arm, immer arm - diese Gleichung stimmt zwar nicht zwangsläufig. Selbstverständlich fördern auch viele einkommensschwache Eltern ihren Nachwuchs, so gut es eben geht. Doch häufig verfestigt sich Armut. "Je länger Kinder in Armut leben, desto höher ist das Risiko, dass das ihr Schicksal negativ beeinflusst", sagt Anette Stein. Noch immer sind Kinder aus Hartz-IV-Haushalten an Universitäten eher die Ausnahme.
Armutsrisiko alleinerziehend
Die Studie zeigt: Besonders betroffen sind Töchter und Söhne von Alleinerziehenden und Kinder, die mit zwei und mehr Geschwistern aufwachsen. Zudem scheint es auch eine Rolle zu spielen, wo man aufwächst. Generell gilt: Im reichen Süddeutschland ist das Armutsrisiko deutlich geringer als in industriell schwächeren Gegenden wie in Nordrhein-Westfalen.
Ein weiteres Ergebnis: Etwa jedes fünfte Kind in Ostdeutschland wächst in Armut auf. Trauriger Spitzenreiter ist dabei Berlin. Fast jedes dritte Hauptstadtkind gilt als arm. Einen deutlich besseren Start ins Leben haben Kinder, die in Bayern oder Baden-Württemberg groß werden: Hier ist nicht einmal jedes zehnte Kind von Armut betroffen.
"Eine Politik, die vom Kind her denkt"
Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung sieht den Staat in der Pflicht. Es werde zwar viel über Familienpolitik geredet, auch einiges getan: "Aber ganz offensichtlich wirkt all das nicht", so Stein. Das Hauptproblem sei die Berechnung der Sozialhilfesätze. Bislang werden die Hartz-IV-Sätze, die für arbeitslose Erwachsene gelten, auf Kinder herunter gerechnet.
"Kinder sind aber keine kleinen Erwachsenen", kritisiert Stein. Die finanzielle Unterstützung müsse auf die Bedürfnisse von Kindern zugeschnitten werden. So brauchten Kinder auch Zugang zu Kultureinrichtungen und zu verschiedenen Bildungsangeboten - mit Kindertagesstätte und Schule alleine sei es nicht getan, so die Expertin. Ihre Forderung: "Wir brauchen eine Politik, die vom Kind her denkt."
Dass die Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland steigt, ist grundsätzlich nicht neu. Die Bertelsmann-Studie macht jedoch deutlich, dass all die staatlichen Maßnahmen bislang ins Leere laufen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der aktuelle Armutsbericht verschiedener Sozialverbände in Deutschland. Ein "bedarfsabhängiges, existenzsicherndes Kindergeld" wird auch darin gefordert.
Was eine glückliche Kindheit ausmacht - am Geldbeutel der Eltern lässt sich das sicherlich nicht messen. Doch die Summe der Verzichte - kein Bio-Essen, kein Fußballverein, kein Klavierunterricht, keine Nachhilfe, kein Familienurlaub, keine Auslandsaufenthalte - macht durchaus einen Unterschied.
Kaum einen Unterschied, so die Kritik des Präsidenten des Deutschen Kinderhilfswerks, Thomas Krüger, dürfte der jüngste Vorschlag des Bundesfinanzministers machen: Wolfgang Schäuble möchte das Kindergeld im Monat um zwei Euro pro Kind anheben.