Ankaras Angst vor den Toten von Armenien
16. April 2015Der Streit um die Bewertung der Massaker an den Armeniern, die am 24. April 1915 begannen, wächst sich immer mehr zu einem Problem der türkischen Außenpolitik aus. Nachdem Ankara die Verwendung des Begriffs "Völkermord" durch den Papst am vergangenen Wochenende mit heftiger Kritik und der Rückbeorderung des türkischen Vatikan-Botschafters beantwortete, wies die türkische Regierung auch eine Resolution des EU-Parlaments zu dem Thema in scharfer Form zurück.
Hinter den Reaktionen kurz vor dem 100. Jahrestag stecken neben politischen Kalkulationen auch tiefer gehende Befürchtungen. Eine Anerkennung des Völkermordes durch die Türkei kommt für Präsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nicht in Frage. Die Türkei habe keinen schwarzen Fleck in ihrer Geschichte, sagte Erdogan.
Premier Davutoglu warf dem Papst vor, bei einer internationalen Verschwörung gegen die Türkei mitzuwirken. Ankara beharrt darauf, dass der Tod von mehreren hunderttausend Armeniern zwischen 1915 und 1917 die tragische Folge einer kriegsbedingten Umsiedlungsaktion war, aber kein Völkermord. Armenien und ein Großteil der internationalen Forschung sehen das anders.
Papst am Pranger
Angesichts der anstehenden Parlamentswahl in der Türkei am 7. Juni entwickelt sich der Genozid-Streit zudem zunehmend zum Wahlkampfthema. Weil Davutoglu und seine Regierungspartei AKP verstärkt um die Stimmen nationalistischer Wähler werben, ist der Papst in Ankara zum Buhmann geworden.
Davutoglu warf dem Oberhaupt der katholischen Kirche unter anderem vor, Islamophobie zu schüren. Ein westlicher Diplomat in Ankara sagte der Deutschen Welle, so kurz vor der Wahl seien von einer türkischen Regierung kaum moderate Töne in der Armenier-Frage zu erwarten.
Erdogan, der den Wahlkampf der AKP nach Kräften unterstützt, obwohl er selbst nicht für das Parlament kandidiert, sehe in der Armenier-Debatte eine Chance, den Wählern ein Weltbild nach dem Motto "Die gegen uns" zu präsentieren, sagte der Anwalt und Kolumnist Orhan Kemal Cengiz der Deutschen Welle. Zum Teil gingen die heftigen Reaktionen in Ankara aber auch auf eine "tiefe Angst" zurück, sagte Cengiz.
Muslime gegen Christen
Der Kolmnist nahm in den vergangenen Jahren unter anderem als Anwalt am Prozess gegen die Christenmörder von Malatya teil. Das Verfahren geht auf die Ermordung von drei Christen am 18. April 2007 in einem Gebäude des protestantischen Bibelverlags Zirve in der türkischen Stadt Malatya zurück. Den Angeklagten - fünf Ultranationalisten - wird vorgeworfen, ihre Opfer überfallen, gefesselt, gefoltert und die Kehle durchschnitten zu haben. Im März 2014 wurden die Männer aus dem Hochsicherheitsgefängnis entlassen.
Nach Einschätzung des Kolumnisten Cengiz befürchtet die türkische Regeirung, dass eine Anerkennung des Völkermordes dem Bild der Türkei in der Welt schaden und Entschädigungsforderungen der Nachfahren armenischer Opfer nach sich ziehen könnte. Es gehe aber auch darum, dass die heutige Türkei "auf der Ausgrenzung von Nicht-Muslimen" aufgebaut worden sei. Dies werde zwar von Intellektuellen und Akademikern diskutiert, nicht aber in der breiten Öffentlichkeit.
Alle Augen auf Obama
Vorerst ist nicht zu erwarten, dass sich die Türkei diesem schmerzhaften Thema nähert. Vielmehr richten sich die Blicke nun auf US-Präsident Barack Obama, der jedes Jahr zum 24. April eine Gedenk-Botschaft zum Jahrestag der Massaker an den Armeniern veröffentlicht. Bisher hat Obama mit Rücksicht auf den wichtigen NATO-Partner Türkei den Begriff des Genozids vermieden, obwohl ihn US-Senatoren und Abgeordnete des Repräsentantenhauses sowie armenische Verbände in den USA immer wieder dazu aufrufen. Die Spannung ist groß. "Wird er es sagen?" fragte die Zeitung "Hürriyet".
Auch die erwartete Rede von Bundespräsident Joachim Gauck bei einer Gedenkveranstaltung kommende Woche dürfte in der Türkei aufmerksam verfolgt werden. Sollten Gauck und Obama sich entscheiden, von Völkermord zu sprechen, wäre das ein empfindliche Niederlage für die Türkei, die eine breite internationale Anerkennung des Genozids verhindern möchte. Mit Veränderungen in der türkischen Haltung ist laut Cengiz aber vorerst nicht zu rechnen: Der Druck von außen werde wahrscheinlich zu einer Verhärtung der Positionen Ankaras führen, sagte er.