Angst vor neuem Wettrüsten
1. Dezember 2017Vom "Gleichgewicht des Schreckens" war Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre die Rede. Damals lieferten sich die Sowjetunion und die USA einen historisch beispiellosen Rüstungswettlauf. Mittelstreckenraketen vom Typ "SS 20" auf der einen Seite und "Pershing II" auf der anderen wurden zu Metaphern im Ost-West-Konflikt. Die Angst vor einem Atomkrieg war real. In Deutschland entstand eine neue Friedensbewegung. Ihr Protest war letztlich erfolglos, denn der Bundestag stimmte Ende 1983 der Stationierung von Mittelstreckenraketen auf dem Boden der Bundesrepublik zu.
In der DDR-Diktatur forderten Friedensbewegte die Staatsmacht mit dem Slogan "Schwerter zu Pflugscharen" heraus. Damals hätte es niemand für möglich gehalten, "dass wenige Jahre später der erste Abrüstungsvertrag nach 1945 abgeschlossen werden könnte". Das sagte Bernd Greiner, Leiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg, auf einer bis Samstag dauernden Konferenz zum Abschluss des vor 30 Jahren geschlossenen INF-Vertrages (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) zwischen der Sowjetunion und den USA.
Noch heute wundert sich der Historiker ein wenig darüber, dass sich die damaligen Supermächte auf diesen Deal eingelassen haben, zumal anders als in früheren Verträgen keine Obergrenzen für atomare Mittelstreckenraketen beschlossen wurden, sondern deren Verschrottung. Bis 1991 wurden 2700 Waffensysteme vernichtet. Greiner betont deshalb das Wort "Abrüstungsvertrag", was etwas anderes sei als Rüstungskontrolle.
Der INF-Vertrag steht auf wackligen Füßen
Im Rückblick stellt er sich die Frage, "wie es entgegen allen Erwartungen der Zeitgenossen möglich war, einen solche Vertrag zu ratifizieren". Antworten darauf suchen die Teilnehmer der Berliner Konferenz auch mit Blick auf die "tagespolitische Aktualität". Schnell und aus naheliegenden Gründen ist von Nordkorea und den fortgesetzten Raketentests des Regimes unter Kim Jong Un die Rede. Aber Greiner und andere lenken den Blick immer wieder auf den fragilen INF-Vertrag.
Russland als Erbe der Sowjetunion hat womöglich wenig Interesse daran, das historische Abkommen zu verlängern. Der Grund: die Stationierung von Mittelstreckenraketen in China, Indien und Pakistan. Und auf US-amerikanischer Seite gebe es "ähnliche Überlegungen", den INF-Vertrag aufzukündigen. Vor diesem Hintergrund macht sich Greiner Sorgen um die globale Sicherheitspolitik, "weil die Debatte über die Gefährdung des Vertrages noch längst nicht so weit ist, wie sie sein sollte".
Dass die Welt tatsächlich vor einer neuen atomaren Rüstungsspirale steht, stellt Susanne Baumann in Frage. Sie ist stellvertretende Beauftragte der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Jedoch würden einige Staaten Nuklearwaffen eine ganz neue Bedeutung beimessen. Nordkorea hält Baumann für das "eklatanteste Beispiel, wo ein Staat versucht, über ein Nuklearwaffen-Programm sich einen Platz in der Welt zu verschaffen". Sie sagt aber auch, die Sicherheitssituation in Europa habe sich mit der "illegalen Annexion der Krim gewaltig verändert".
Die Bedeutung vertrauensbildender Maßnahmen
Atomwaffen hätten in der russischen Rhetorik in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Dass deshalb schon von einer "Renuklearisierung" die Rede sein könne, bezweifelt die Expertin der Bundesregierung aber. Wesentlich skeptischer klingt Otfried Nassauer vom Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit. Er befürchtet, dass es zu einer neuen Diskussion über Atomwaffen in Europa kommen könnte. Als Beleg dient ihm das US-amerikanische Programm für die Modernisierung solcher Waffen.
"Nordkorea ist nur die Spitze des Eisbergs"
Wie ein atomarer Rüstungswettlauf beendet und in sein Gegenteil, nämlich Abrüstung, verkehrt werden kann, dafür steht nach Nassauers Überzeugung der vor 30 Jahren geschlossene INF-Vertrag. Der sei eine "vertrauensbildende Maßnahme" gewesen, weil er neben Abrüstung auch noch die "gegenseitige Erlaubnis zu Vor-Ort-Inspektionen beinhaltete".
Darüber hinaus hätten die Protagonisten Michail Gorbatschow und Ronald Reagan den Vertrag als "Einstieg in die Lösung weiterer globaler Probleme" betrachtet. So habe der US-Präsident damals seine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, auch die Probleme mit strategischen Atomwaffen und konventionellen Waffen in Europa in Europa in den Griff zu bekommen.
Ähnlich skeptisch wie Nassauer ist Andreas Wirsching vom Münchener Institut für Zeitgeschichte. Für viele Staaten gehe es bei Atomwaffen um "Prestige, gefühlte oder auch objektivierbare Sicherheitsinteressen". Nordkorea sei da nur die "Spitze des Eisbergs", denn es gebe eine ganze Menge Staaten, die nach der nuklearen Bewaffnung gegriffen hätten und sie jetzt besäßen. Das verändere die globale Sicherheitslage insgesamt, der alte Ost-West-Gegensatz habe sich aktualisiert. Auch in Wirschings Augen heißt der Schlüsselbegriff "Vertrauen". Und das sei "gründlich" verloren gegangen.
Die Gründe dafür zu benennen sei schwierig, meint er. Eine Erklärung sei, dass der Westen es nach 1990 versäumt habe, Russland in ein "kollektives Sicherheitssystem" einzubinden. Das entspreche auch der russischen Selbstwahrnehmung. Damals wäre das eher als heute möglich gewesen. Auch die NATO-Osterweiterung sei Teil des Vertrauensverlustes. Andererseits habe der Westen Russland "jede Menge Angebote gemacht, zusammen eine Veränderung des Status quo herbeizuführen". Und die Krim-Annexion sei das Ereignis, bei dem man sagen müsse: "Da ist auch sehr, sehr schwer, Vertrauen zurückzugewinnen."
Die Einsicht, aus sicherheitspolitischen Erwägungen auf atomare, aber auch chemische Waffen zu verzichten, kann Oliver Meier von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik weltweit nicht erkennen. Im russisch-amerikanischen Verhältnis sieht er den entscheidenden Unterschied zwischen den politischen Ausgangslagen damals und heute. Es falle ins Auge, dass die politischen Führungen in Moskau und Washington "nicht so gestrickt sind, dass sie diese Argumentation nachvollziehen".
Renaissance sozialdemokratischer Entspannungspolitik?
Für die deutsche Regierung sagte deren Abgesandte Susanne Baumann, es sei ganz wichtig zu betonen, "dass Rüstungskontrolle und Abrüstung keine Schönwetter-Veranstaltungen sind". Deshalb dränge man darauf, dass Vereinbarungen eingehalten würden. Nur das könne zu "Vorhersehbarkeit, Transparenz und Stabilität führen". Im Namen Europas fordert Baumann Russland und die USA auf, sich an einen Tisch zu setzen und die Probleme auszuräumen.
Leichter gesagt als getan - Otfried Nassauer vom Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit bezeichnet die russisch-amerikanischen Beziehungen als "klassisches Kalter-Krieg-Verhältnis". Ost und West würden sich im Moment nur das "maximal Schlechte" unterstellen. Als Lösung empfiehlt er, sich einer "Kernidee" sozialdemokratischer Entspannungspolitik zu erinnern: "Bevor wir den Anderen kritisieren, sollten wir uns nochmal genau in seine Lage versetzen."