"Geregelter Brexit ist in deutschem Interesse"
21. März 2019Angela Merkel konnte es nicht erwarten. Noch sprach Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, erläuterte den ersten Tagesordnungspunkt, die Regierungserklärung der Kanzlerin. Schon stand Merkel auf, zögerte einen Moment, nahm die Mappe mit ihrem Redetext, ging die Stufe hinab von der Regierungsbank zum Rednerpult, wollte schon die Mappe auf der Ablage platzieren… - da redete Schäuble immer noch.
Merkel schaute hinauf zu ihm, wirkte irritiert, stockte, hielt inne und ging dann, fast sichtlich kleiner werdend, zurück zum Platz, ihrem Stuhl auf der Regierungsbank. Legte die Mappe wieder ab, zog den tiefblauen Stuhl zurück und setzte sich. Und als sie saß, endete Schäuble mit seinen Erläuterungen dieses ersten Tagesordnungspunktes: "Abgabe einer Regierungserklärung zum Europäischen Rat". Vom Bundestagspräsidenten kam keine Bemerkung zu dieser Szene direkt vor seinem Blick. Es hätte nicht überrascht.
Merkel rechnet mit EU-Sondergipfel
Ob Merkel rasch reden wollte, weil das Thema sie pressierte? Als Schäuble ihr dann das Wort erteilt, spricht die Regierungschefin 21 Minuten. Acht Minuten davon widmet sie der Brexit-Frage, ganz überwiegend der Frage eines geregelten Brexit. Es brauche eine geordnete Lösung des Austritts Großbritanniens aus der EU. Falls es in den nächsten Tagen im Londoner Unterhaus ein positives Votum gebe, könne man über den Wunsch Mays, "über eine kurze Verlängerung dann sicher positiv reden". Ein geregelter Brexit sei "in deutschem Interesse und im Interesse aller 27 Mitgliedsstaaten". Merkel macht bereits deutlich, dass sie mit einem EU-Sondergipfel in der kommenden Woche rechnet.
Aber innerhalb von zwei Minuten ihrer Rede widmet sie sich der Frage eines ungeregelten Brexit. Notfallpläne lägen vor, seien auch im Bundestag besprochen worden. "Wir werden uns bis zum letzten Tag, bis zur letzten Stunde dafür einsetzen, dass dieser Notfallplan nicht zum Tragen kommt." Mehr Brücke will sie nicht bauen, mehr Mahnung kann sie nicht aussprechen.
"Europa muss stärker werden"
Den größeren Teil ihrer Rede widmet Merkel künftig eher dringend anstehenden europäischen Aufgaben: der Digitalstrategie der EU rund um Big Data und künstliche Intelligenz, einer neuen EU-Industriepolitik, der Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber den USA und gegenüber China, der Konjunkturentwicklung, einer europäischen Verteidigungspolitik. "Europa muss stärker werden, um auch künftig sein Wohlstands- und Sicherheitsversprechen einlösen zu können." Das sei unabdingbar in einer Welt, die sich erkennbar global und fundamental neu ordne. Dabei müsse Europa auf multilaterale Zusammenarbeit setzen. Es ist Merkel pur, da redet mindestens so sehr die Europäerin und Weltpolitikerin als die Kanzlerin oder CDU-Politikerin. Dass sie dabei auch solch "merkelige Lieblingsbegriffe" wie "disruptive Innovation" und "Reziprozität" nutzt, zeigt, wie sehr sie in diesen Themen unterwegs ist.
Zwei Mal - als es um die Stabilität des Euro und um eine Steuer auf Finanztransaktionen geht - lobt sie Olaf Scholz. Der sozialdemokratische Finanzminister ist das einzige Kabinettsmitglied, das in ihrer Rede Erwähnung findet. So wichtig scheint das deutsche Engagement für die Stabilität des Euro der Kanzlerin.
Bei mehreren Themen, der geplanten EU-Urheberrechtsreform und der Frage von gemeinsamen Rüstungsprojekten, stellt die Kanzlerin die bisherige deutsche Praxis ausdrücklich in Frage. Im Zweifelsfall dürfe auch ein deutscher Koalitionsvertrag der europäischen Partnerschaft nicht im Wege stehen.
Vor dem Wahlkampf
Bei der folgenden Debatte, der Merkel länger als gewöhnlich folgt, geht es um den Brexit. Aber immer wieder ist, auch zwischen den Koalitionspartnern, der aufkommende Europa-Wahlkampf zu spüren. AfD-Fraktionschef Alexander Gauland mahnt Merkel, den Briten bei ihrem "Weg in die Freiheit" entgegenzukommen. Aber überwiegend gehen die Mahnungen der Redner an die Adresse der Briten. FDP-Chef Christian Lindner ruft dazu auf, jede Chance zum Verbleib der Briten zu nutzen. "Das kann einen nicht kalt lassen, dass ein Partnerland sich in eine solche Lage manövriert."
Nach gut zwei Stunden, etwas mehr Zeit, als von der Tagesordnung vorgesehen, endet die Debatte. Es sind zwei Stunden weniger auf dem Weg zum Brexit, der danach nach jetzigem Stand noch 180 Stunden entfernt ist.