Angekommen: Obaid aus dem Iran
23. Dezember 2015Das Schild an seiner Zimmertür ist Obaid wichtig. Ganz sorgfältig klebt er es auf. Da steht auf Persisch: "Chosch amadid" - "Willkommen". Jeder Besucher soll sich gleich gut aufgenommen fühlen. Heute erwartet Obaid Besuch, auf den er sich schon den ganzen Tag freut.
Dafür hat er sogar seinen Lieblingssport Fußball ausfallen lassen. Obaid spielt seit fast einem Jahr im Fußballverein. Das verdankt er seinem Betreuer in der Wohngruppe im SOS-Kinderdorf im bayerischen Hagenheim, Markus Wierl. Der sportliche Mann hat 15 Jahre als gelernter Altenpfleger gearbeitet und danach jahrelang als Kinderpfleger. Fußball hält er für die beste Integrationsmaßnahme. "Plötzlich war das nicht mehr der anonyme Flüchtling. Jetzt war es der Obaid, der Jaffa oder Ali. Plötzlich war es der Mensch", beschreibt Wierl den Effekt des Sports.
Obaid hat beim Fußball ganz schnell Freunde gefunden, in einem Land, das wieder Schlagzeilen macht mit brennenden Flüchtlingsheimen und rassistischen Sprüchen im Internet. Das erinnert Obaid immer wieder an seine schlimme Vergangenheit im Iran.
Dort lebt er, bevor er als Fünfzehnjähriger flieht. Obaid ist in Kabul in Afghanistan geboren. Aber weil seine Eltern nicht für ihn sorgen können, bringen sie Obaid im Alter von nur vier Monaten zu einem Onkel im Iran. Doch in der Hauptstadt Teheran hat Obaid keine schöne Kindheit. Mit sieben Jahren arbeitet er mit dem Onkel auf Mohnfeldern, um zu überleben. Danach arbeitet er auf der Straße. "Ich habe Kaugummi und Schuhe verkauft." Oft übernimmt er Gelegenheitsjobs. Doch statt einer Bezahlung wird er verprügelt und ohne Geld wieder weggeschickt.
Obaids Betreuer Markus Wierl kennt das aus vielen Erzählungen an langen Abenden. Der kleine Obaid ist im Iran nicht offiziell gemeldet, besitzt keine Papiere und ist damit illegal dort. "Solche Menschen sind im Iran rechtlos, wenn sie Lohn einfordern. Oft hören sie: 'Geh doch zur Polizei!' Einem haben die alle Zähne ausgeschlagen."
Eine andere Welt
Immer dann, wenn die Vergangenheit Obaid einholt und die Erinnerung unerträglich wird, geht er im Heim auf den Dachboden. Dort steht ein Kicker, und Betreuer Markus spielt dann mit Obaid so viele Runden Tischfußball, bis sich der Junge aus dem Iran wieder beruhigt. "Jetzt hab ich keine Angst mehr. Alles ist richtig", sagt Obaid erleichtert.
Dass ihm überhaupt die Flucht aus dem Iran gelingt, verdankt Obaid seiner Schwester. Sie hat zur Hochzeit eine wertvolle Kette geschenkt bekommen. Das Schönste, das sie jemals besessen hat, verkauft die Schwester, um ihrem Bruder das Geld für die Flucht zu geben. Obaid wird fast alles verlieren. Immer wieder muss er für seine Weiterreise Fluchthelfer bezahlen, die sein Alter, seine Schüchternheit und seine Unerfahrenheit schamlos ausnutzen. In der Türkei. In Griechenland. In Mazedonien. In Serbien, in Ungarn und in Österreich.
In Deutschland angekommen will Obaid schnell irgendeinen Job annehmen. Irgendeinen. Hauptsache, es gibt Geld. Dass jede Arbeitsaufnahme für Ausländer in Deutschland streng geregelt ist, weiß er noch nicht. Als er im SOS-Kinderdorf Hagenheim aufgenommen wird, versucht ihm sein Betreuer zu erklären, dass eine dreijährige Ausbildung wichtiger ist als ein schneller Hilfsjob. Viele junge, unbegleitete Flüchtlinge werden von ihren Familien vorgeschickt, um die Daheimgebliebenen mit Geld zu versorgen. "Da gibt es Druck von der Familie, die sagen: 'Hallo, du bist doch jetzt im Paradies.'"
Weihnachten kann kommen
Obaid haben die Argumente seines Betreuers eingeleuchtet. Er will jetzt eine Schreinerlehre machen. Sein Freund und Zimmergenosse Ali aus Kabul hat sich für eine Ausbildung zum Schneider entschieden. Er bringt gute Vorkenntnisse mit: Was er als Näher in Kabul gelernt hat, entspricht Fähigkeiten und Wissensstand im dritten Ausbildungsjahr in Deutschland, bestätigen ihm Fachleute. Ali übt trotzdem weiter, mit gespendeten Nähmaschinen.
Ali ist zufrieden - aber wie viele der unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlinge ist er mit falschen Vorstellungen gekommen. Statt 2000 Euro, von denen er gehört hat, gibt es tatsächlich nur 45 Euro monatliches Taschengeld. Dass dies keine Reichtümer sind, haben Obaid und Ali schnell festgestellt. Schon ein kurzes Telefonat in den Iran kostet mindestens zehn Euro - über Skype kann Obaid seine Schwester nicht erreichen. Aber das Geld ist es ihm wert, um in Kontakt zu bleiben. Sein größter Traum wäre es, die Schwester nach Deutschland holen zu können.
Ein kleiner Traum immerhin geht an diesem Abend für Obaid in Erfüllung. Sein erwarteter Besuch ist da. Draußen ist es schon dunkel. Der klare Himmel gibt ein riesiges Sternenzelt über dem Wohnheim frei. An diesem Dezemberabend schießen Sternschnuppen über den Himmel. Plötzlich tauchen sie auf und sind mit ihrem verglühenden Schweif dann wieder verschwunden. Unter dem klaren Sternehimmel vor dem Heim steht ein junges Mädchen neben einem kleinen Auto. Es ist Obaids Freundin. Und es wird für ihn ein ganz besonderes Weihnachten.