Angekommen: Ali und Noah aus Afrika
20. Dezember 2015Noahs Hände streicheln den Stoffelefanten immer wieder ohne Pause. Das Spieltier scheint ihm Halt und Trost zu geben. Es fällt dem Jungen aus Mali in Westafrika nicht leicht, über das zu sprechen, was er auf seiner Flucht erlebt hat. Noah möchte nicht fotografiert werden. Nicht aus Angst, sondern aus religiösen Gründen. Seine Flucht-Geschichte begann als 16-Jähriger.
"Es war Krieg in Mali", berichtet Noah, "und ich konnte meine Eltern nicht mehr sehen." Ein Freund erzählt ihm, dass es in Libyen Arbeit gibt. Auf einem Laster geschmuggelt gelangt er zum ersten Mal nach Libyen. Er wurde allerdings von der Polizei entdeckt und zurück nach Niger geschickt. Er war dann vier Tage lang in der Wüste. "Das war sehr gefährlich, weil wir ohne Essen und Trinken waren."
Noch einmal versucht er nach Libyen zu kommen. Erst beim zweiten Versuch schaffte er es. "Ich habe dort mit einem Freund ein Jahr lang Autos gewaschen." Noahs illegale Tätigkeit fliegt schließlich auf, aber es gelingt ihm zu fliehen. Inzwischen macht ihm eine Verletzung am Bein so große Probleme, dass er nicht mehr arbeiten kann. Noah wird klar, er muss weg, wenn er eine Zukunft haben will.
Doch weiß er gar nicht, wohin er gehen soll. Von Deutschland ist nicht die Rede. Noah will einfach nur weg. Ein Mann bietet eine Bootsfahrt nach Italien an. Von der gefährlichen Überfahrt hat Noah gehört - er könnte sterben. "Ist mir egal, lieber tot" sagt Noah entschlossen.
Vier Tage sind sie in einem Schlauchboot auf See - die schlimmsten Stunden seines Lebens, erinnert sich Noah: "Wir waren 82 Leute im Boot. Jeder hatte Angst. Wir waren alle still, weil wir dachten, wir sind gestorben." Tatsächlich muss Noah mit ansehen, wie zwei Menschen über Bord gehen und im Meer ertrinken. Er selbst wird von italienischen Fischern gerettet.
Ticket ins Glück
In Italien erhält er ein Bahnticket nach Deutschland geschenkt. Die Bedingung der Sicherheitskräfte: Er dürfe nie wiederkommen, sonst werde er festgenommen und zurückgeschickt. Die Fahrkarte nach Deutschland wird der größte Glücksfall für Noahs Leben. Er kommt ins SOS-Kinderdorf in Landsberg und in Bayern operieren Ärzte sein verletztes Bein.
SOS-Kinderdörfer kümmern sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs weltweit um Kinder, die ihre Eltern verloren haben. In dem Heim in Landsberg wird Noah liebevoll von den engagierten Sozialpädagoginnen Angelika von Au und Maria Stock aufgenommen.
Seitdem immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen, reagiert das Land Bayern. Offiziell fordert die bayrische Regierung zwar Obergrenzen für Flüchtlinge und kritisiert die Bereitschaft der Bundeskanzlerin zur unbegrenzten Aufnahme von Flüchtlingen. Im Bundesland Bayern aber packen die Städte und Gemeinden tatkräftig zu. Das Amt für Jugend und Familie in Landsberg finanziert zum Beispiel einen Kostenbeitrag für das SOS-Kinderdorf. Das kann innerhalb kürzester Zeit rund 60 zusätzliche Erzieher, Sozialpädagogen und Lehrer einstellen. Noah gewinnt über ein Stück Normalität die Geborgenheit, die er lange vermisst hatte.
Angstträume
Immer wieder kommt es vor, dass die jungen Flüchtlinge von ihren Erlebnissen in Alpträumen eingeholt werden. Angelika von Au und Maria Stock kennen solche Situationen: "Die Kinder wachen in der Nacht auf und schreien. Die schwitzen und erleben das Ganze noch mal." Die Betreuer versuchen dann, sie zu beruhigen. In den Wohngruppen bleiben die Minderjährigen nicht alleine. Sie werden rund um die Uhr von sozialpädagogischen Fachkräften betreut.
Noah weiß immer noch nicht, ob er in Deutschland bleiben darf, aber er gewinnt erste Freunde. "Das war nicht schwierig. Ich war einen Monat hier und habe Freunde gefunden, beim Deutschlernen kennengelernt." Die Betreuer sehen, dass vor allem das gemeinsame Essen integriert: Deutsche und Flüchtlingskinder ohne Eltern sitzen an einem Tisch. Sie kochen, essen und lachen zusammen, wie in einer großen Familie.
Doch es gibt auch negative Erfahrungen, sagt Maria Stock ganz offen: "Es gibt Deutsche, die wollen nichts mit den jungen Flüchtlingen zu tun haben. Die wollen nicht mit einem Schwarzen an einem Tisch sitzen." Diese Jugendlichen hätten Angst, dass ihnen die gleichaltrigen Flüchtlinge Wohnraum und Arbeit wegnehmen könnten. Immer wieder versuchen Betreuer, die Lage zu erklären, Fakten zu vermitteln und so Verständnis zu wecken.
Eisbrecher Fleiß
Der 17-jährige Ali aus dem Senegal hat alle beeindruckt. Er geht nach einem Integrationskurs Deutsch wie Noah auch in die Berufsschule. "Mein Ziel ist, eine gute Zukunft zu haben. Wenn du zur Schule gehst, findest du nachher Arbeit. Im Senegal geht das nicht. Da musst du Geld für die Privatschule haben."
Aber die Berufsschule reicht Ali nicht. "Nach der Schule ist viel Zeit. Ich möchte etwas zu tun haben, sonst ist es langweilig." Er bittet seine Betreuer um Hilfe - und geht jetzt in eine Schreinerei zur Ausbildung. "Ich lerne, einen Tisch oder einen Stuhl zu bauen."
Deutschland ist für Ali das Land mit den vielen Regeln: "Regeln haben ist wichtig. Das gibt Orientierung." Er wirkt fröhlich und erscheint sehr unternehmungslustig, spielt Trommel und Gitarre. Aber immer wieder gefriert sein Gesicht und er wird stumm und verschlossen. Dann bricht es aus ihm heraus.
Vor elf Jahren stirbt seine Mutter. Seinen Stiefvater verlässt er, weil dessen Brüder ihn immer wieder schlagen. Auf seinem Weg über Mali, Burkina Faso und Algerien hat Ali auch im Gefängnis gesessen. Ein halbes Jahr lang. Als illegal reisender Minderjähriger sei er absolut rechtlos, sagt Ali, der beteuert, nichts Unrechtes getan zu haben. Er habe nur nachts den Koran studiert.
Als er in seiner Gefängniszelle mitbekommt, dass ältere Gefangene aus Somalia und Eritrea einen Ausbruch planen, hilft er mit und kann tatsächlich fliehen. Ein Schlepper organisiert die Überfahrt nach Italien. Elf Stunden vergräbt sich Ali so im Boot, dass er nichts sehen kann. Wenn das Boot bei dem Wellengang sinken sollte, will er nichts davon mitbekommen. Die Hitze macht ihm Kopfschmerzen und lässt ihn immer wieder ohnmächtig werden. Er hat Glück - er kann sich nach Deutschland durchschlagen.
Ali landet wie Noah im SOS-Kinderdorf Landsberg. Was hat ihn sein Weg gelehrt? "Erstens Geduld. Und zweitens: Es gibt gute und schlechte Freunde." In Deutschland hat er vor allem gute Freunde - zum Beispiel Noah aus Mali.