Ampelkoalition will Einwanderung erleichtern
27. November 2021Eine radikale Überarbeitung des deutschen Staatsbürgerschafts- und Einwanderungsrechts gehört zu den zentralen Ankündigungen im Koalitionsvertrag der künftigen Bundesregierung. "Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik, wie es für ein modernes Einwanderungsland richtig ist", heißt es in der 178-seitigen Vereinbarung von Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freien Demokraten (FDP).
Einbürgerung nach fünf Jahren möglich
Konkret soll der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vereinfacht werden und Einbürgerungen bereits nach fünf Jahren möglich sein - bei besonderen Integrationsleistungen sogar nach nur drei Jahren. In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern werden mit ihrer Geburt Deutsche, wenn ein Elternteil seit fünf Jahren in Deutschland lebt. Migration - so heißt es im Vertrag - solle "vorausschauend und realistisch" gestaltet, "irreguläre Migration" reduziert werden. Für schnellere Asylverfahren will die neue Koalition das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entlasten. Die Visavergabe soll digitalisiert und ebenfalls beschleunigt werden. Arbeitsverbote "für bereits in Deutschland Lebende" sollen abgeschafft werden.
"Wir wollen als Koalition einen Schlussstrich unter die restriktive Asylpolitik der letzten Jahre ziehen und dafür sorgen, dass Menschen, die hier dauerhaft leben und absehbar auch dauerhaft leben werden, die Möglichkeit erhalten, ihren Aufenthalt zu verfestigen, in Arbeit zu kommen, Sprachzugang zu haben, und zwar unterschiedslos", sagt die Bundestagsabgeordnete Luise Amtsberg von den Grünen im DW-Gespräch. "Das sind alles wichtige Schnittpunkte, die für ein modernes Einwanderungsland relevant sind und tatsächlich einen Paradigmenwechsel beschreiben", fügt sie hinzu.
Union befürchtet Zunahme illegaler Migration
Ralph Brinkhaus, Fraktionsvorsitzender der konservativen Union aus CDU und CSU, die nach 16 Regierungsjahren nun auf der Oppositionsbank sitzt, steht den Plänen skeptisch gegenüber. "Wir hätten sicherlich nicht diese brutale Offenheit im Bereich Migration gehabt", sagte Brinkhaus im Deutschlandfunk. "Wir haben große Sorge, dass das ein Pull-Faktor für ganz, ganz viel illegale Migration sein wird." Das Menschen, die ohne rechtliche Grundlagen nach Deutschland gekommen seien, nach einer gewissen Zeit hierbleiben dürften, halte er für falsch.
Allerdings hatten die zuständigen Minister der 16 Bundesländer die Bundesregierung Anfang des Jahres aufgefordert, die Staatsbürgerschaftsregeln zu lockern. Die 2007 unter Bundeskanzlerin Angela Merkel ins Leben gerufene Integrationsministerkonferenz zur Koordinierung der Zuwanderungspolitik von Bund und Ländern forderte in einem mehrheitlichen Appell nachdrücklich eine Gesetzesänderung im Sinne der neuen Koalitionsvereinbarungen.
Niedrige Quote doppelter Staatsbürgerschaft
Aufgrund der geltenden Gesetze hat Deutschland eine der niedrigsten Quoten an doppelter Staatsbürgerschaft in Europa. Von den Vorschlägen zur doppelten Staatsbürgerschaft und der vereinfachten Einwanderungsverfahren dürfte besonders der Bevölkerungsteil mit türkischem Mitrationshintergrund profitieren. In Deutschland leben rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Die ersten von ihnen kamen in 1960er Jahren anfangs als Gastarbeiter in die Bundesrepublik, die meisten blieben.
Aufgrund der bisherigen Gesetzeslage besitzen weniger als zehn Prozent von ihnen die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft. Nach einer Studie des Center for American Progress verfügen 55 Prozent nur über die türkische Staatsbürgerschaft. Die Soziologin Gülay Türkmen vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin, die über türkische Migrationsbewegungen forscht, begrüßt die angekündigte Überarbeitung der Staatsbürgerschaftsgesetze. Insbesondere in Bezug auf Deutschlands größten ausländischen Bevölkerungsteil.
Emotionale Bindung zur Türkei
"Der Hauptgrund, warum die türkischstämmige Bevölkerung die deutsche Staatsbürgerschaft ablehnen, ist die Verpflichtung, die türkische Staatsbürgerschaft aufzugeben", erklärt sie der DW. "Das war bei älteren Generationen noch verbreiteter, weil die emotionale Bindung zur früheren Heimat viel stärker war." Das Vorhaben der neuen Bundesregierung werde sicherlich zu einer Zunahme der Anträge auf Staatsbürgerschaft in der türkischen Bevölkerung führen, "wie wir auch im Jahr 2000 nach der Vereinfachung des Einbürgerungsverfahrens gesehen haben", fügt Türkmen hinzu.
Die Grünen-Abgeordnete Amtsberg macht die Union aus CDU und CSU dafür verantwortlich, dass so viele in Deutschland lebende Menschen keinen Einbürgerungsantrag gestellt haben.
"Herr Brinkhaus und die Union waren 16 Jahre in der Verantwortung. Sie haben in der Asyl- und Flüchtlingspolitik in Europa, aber auch in Deutschland relativ wenig erreicht. Vor allen Dingen haben sie dazu beigetragen, dass sehr viele Menschen über Jahre - und man muss schon fast sagen: Jahrzehnte - in diesem Land leben, ohne die Möglichkeit zu bekommen, ihren Aufenthalt zu verfestigen", kritisiert Amtsberg. Obwohl es nach einer bestimmten Zeit absehbar gewesen sei, dass die Menschen dauerhaft bleiben würden. Wie das jetzt bei den afghanischen Schutzsuchenden der Fall sei.
Von Duldung zu vollem Aufenthaltsrecht
Im Koalitionsvertrag wird auch ein schnellerer Weg zum Aufenthalt für junge Menschen aufgezeigt, die sich in Deutschland besonders "integriert" gezeigt hätten. Ein Vorteil für diejenigen, die nur über einen Duldungsstatus verfügen. Ihre Abschiebung wäre künftig schwieriger. Die rechtspolitische Referentin der deutschen Flüchtlingsorganisation Pro Asyl, Wiebke Judith, begrüßt diese Reform: "Aufgrund der Einschränkungen in den letzten Jahren leben rund 200.000 Menschen mit Duldungsstatus in Deutschland. Der Koalitionsvertrag enthält einige gute Ideen, wie man ihr Leben besser legalisieren kann", erklärt Judith der DW. Zum Beispiel durch eine Absenkung der Schwelle für die Beantragung des Aufenthaltsrechts.
Im Allgemeinen stelle sie fest, dass die vorgeschlagenen Änderungen "das Leben von Menschen, die sich bereits in Deutschland aufhalten, viel einfacher machen werde", sagt Judith. "Unser größter Kritikpunkt ist aber, dass der Koalitionsvertrag keine Änderung des Erstaufnahmesystems vorsieht." Demnach sind neue Flüchtlinge und Personen ohne legalen Status weiterhin zu einem Aufenthalt in einem Flüchtlingszentrum verpflichtet.
Flüchtlingszentren als Corona-Hotspots
"Die maximale Aufenthaltsdauer dort hat sich in den letzten Jahren auf 18 Monate erhöht", erklärt Judith. Solche Aufenthalte könnten ein "ein enormes Gesundheitsrisiko bedeuten", weil viele Zentren zu "Coronavirus-Hotspots" geworden seien. Es gebe große Bedenken, dass dies die Asylverfahren negativ beeinflusse.
"Wir sind enttäuscht, dass der Koalitionsvertrag die Verbleibe-Dauer in Erstaufnahmeeinrichtungen nicht verringert", fügt sie hinzu. Möglicherweise werde dies noch geschehen. Judith bemängelt auch, dass das derzeitige Abschiebesystem, nach dem kranke und traumatisierte Menschen gewaltsam aus Deutschland abgeschoben werden können, nicht thematisiert wurde.
Auf der anderen Seite wird der Familiennachzug für Geflüchtete erleichtert, nachdem es auch wegen der Pandemie einen Stau an Anträgen gegeben hat. Viele Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft dürften die angestrebten Änderungen begrüßten. Aber der Koalitionsvertrag ist noch kein Gesetz. Außerdem gibt es keinen Zeitplan für die Vorschläge.
In Anbetracht der zunehmenden Internationalität Deutschlands wird die Einwanderungspolitik eine der zentralen Herausforderungen für die künftige Bundesregierung sein. "Mehr als ein Viertel der Menschen in Deutschland hat einen Migrationshintergrund", betont die Soziologin Gülay Türkmen. "Es ist also definitiv an der Zeit, Reformen anzugehen."
(Ralf Bosen hat zu diesem Artikel beigetragen.)