Amnesty: Höchste Zahl an Hinrichtungen seit fast zehn Jahren
29. Mai 2024In seinem vieldiskutierten "Betrachtungen zur Todesstrafe" von 1957 argumentierte Albert Camus vehement gegen Hinrichtungen. Für den französischen Schriftsteller und Philosophen waren sie kein Mittel der Gerechtigkeit, sondern Ausdruck von Rache und Vergeltung. Blickt man mit diesem Gedanken auf die neuesten Zahlen von Amnesty International (AI), muss man feststellen: Es steht schlecht um die globale Gerechtigkeit.
Denn nach dem jährlichen Bericht der Menschenrechtsorganisation zur weltweiten Anwendung der Todesstrafe sind vergangenes Jahr mindestens 1.153 Menschen exekutiert worden: geköpft, gehängt, erschossen oder vergiftet. 31 Prozent mehr Menschen wurde das Leben mit Gewalt genommen, gemessen an 2022 mit 883 Hinrichtungen. Es sei die höchste Anzahl von Hinrichtungen, "die Amnesty International seit fast einem Jahrzehnt verzeichnet hat", schreibt AI. So viel wie seit 2015 nicht, als es 1.634 Tötungen gab.
Hinrichtungen: China vor Iran und Saudi-Arabien
Von den 16 Ländern, die Hinrichtungen vollstreckten, sind nur wenige für die extreme Erhöhung verantwortlich: Auf Iran entfielen fast drei Viertel (mindestens 853) aller Hinrichtungen, auf Saudi-Arabien 15 Prozent (172). Auch Somalia (mindestens 38) und die USA (24) vollstreckten mehr Todesurteile. Die Zahl der weltweit neu verhängten Todesurteile stieg um 20 Prozent auf 2.428 in 52 Ländern.
Amnesty International geht davon aus, dass in China nach wie vor die meisten Menschen aufs Schafott geführt werden. Aufgrund der staatlichen Geheimhaltung enthält der Todestrafen-Bericht keine Angaben zu den vermutlich tausenden Exekutierten. Ähnliches gilt für Nordkorea und Vietnam, die unter Verdacht stehen, ebenfalls im großen Umfang hinzurichten.
"Der dramatische Anstieg der Hinrichtungen weltweit ist schockierend. Dabei zeigen die Zahlen von Amnesty International nur die Spitze des Eisberges, denn aus einigen Ländern liegen ja keine genauen Daten vor", bewertet Renata Alt die Todesstatistik. Die FDP-Politikerin ist die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.
"Blutrauschartige Hinrichtungen" in einigen Ländern
Als Erfolg verbucht AI, dass die Staaten, in denen Exekutionen durchgeführt wurden, gesunken ist. "Immer mehr Länder verabschieden sich von der grausamen Praxis der Todesstrafe", berichtet die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Julia Duchrow. So fiel ihre Zahl von 20 im Jahr 2022 auf 16 in 2023. In Belarus, Japan, Myanmar und Südsudan wurden keine Hinrichtungen mehr erfasst. Bis heute schafften 144 Länder die Todesstrafe ab.
Doch das konnte die Zunahme der Exekutionen nicht aufwiegen, weil anderswo umso exzessiver liquidiert werden würde, "so dass es nicht nur ein oder zwei Hinrichtungen pro Land, sondern zwei- bis dreistellige Hinrichtungszahlen gab", sagt Max Meißauer. Der Experte für die Todesstrafe bei Amnesty International in Deutschland spricht gegenüber der DW von "Hinrichtungen, die in einigen wenigen Ländern fast blutrauschartige Ausmaße angenommen haben."
Eine weitere Ursache für den Anstieg: Die Corona-Pandemie ist nicht mehr akut. "Während der Pandemie sind die Hinrichtungszahlen weltweit zurückgegangen wegen der Gesundheitsvorkehrungen in den Gefängnissen", erklärt Meißauer. "Es gab auch weniger Ressourcen für Hinrichtungen, so dass sie nicht weit oben auf der Agenda standen. Diese Entwicklung finden wir in den Zahlen zu 2023 nicht mehr."
Todesstrafe als Mittel der Unterdrückung - vor allem im Iran
In Ländern, die hinrichten, werde die Todesstrafe auch als politisches Instrument genutzt. "Öffentliche Hinrichtungen sind seit je her ein Mittel der politischen Repression und gesellschaftlichen Abschreckung", sagt Meißauer. Besonders gilt das für den Iran. Dort setzten die Behörden die Todesstrafe verstärkt ein, um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen und ihre Macht zu festigen, heißt es in dem Bericht.
Von den Hinrichtungen seien mehr als 60 Prozent für Taten vollstreckt worden, die nach internationalem Recht nicht mit der Todesstrafe geahndet werden dürften, darunter vor allem Drogendelikte. Im Iran habe es 2020 mindestens 246 Hinrichtungen gegeben, sagt Maissauer. "In unserem aktuellen Bericht sind es nun mehr als 853. Das sind Zahlen, die beinahe exponentiell durch die Decke gehen."
Die Vorsitzende des Menschenrechte-Ausschusses, Renata Alt, fordert deshalb im Gespräch mit der DW die Europäische Union auf, mehr Druck auf das Mullah-Regime auszuüben. "Leider sind die EU-Mitglieder nicht immer einig, sonst hätte die EU die iranischen Revolutionsgarden schon längst auf ihre Terrorliste gesetzt", erklärt Alt.
Immerhin: "Durch öffentlichen Druck und die Übernahme von Patenschaften durch Politiker im Westen konnte die Begnadigung einiger zum Tode Verurteilter erreicht werden", so Alt.
Geständnisse in Saudi-Arabien durch Folter erpresst
Auf der anderen Seite des Persischen Golfes, in Saudi-Arabien, dem Land mit den drittmeisten Hinrichtungen, verbesserte sich die Lage aus Sicht von Menschenrechtlern nur auf den ersten Blick. Zwar sanken die vollstreckten Todesurteile leicht um zwölf Prozent auf 172. Aber – so hält der Amnesty-Bericht fest: "Geständnisse" seien dort durch Folter erpresst, Todesurteile entgegen internationalem Recht und nach unfairen Verfahren gefällt worden.
Zum Beispiel im Fall Mohammad al-Ghamdi. Im Juli 2023 war der ehemalige Lehrer zum Tode verurteilt worden. Sein Vergehen: regierungskritische Social Media Posts. Saudi-Arabien war das einzige Land, das im letzten Jahr Menschen durch das Schwert des Henkers enthauptete.
Meißauer weist darauf hin, dass es im Iran und in Saudi-Arabien zudem Hinrichtungen für relativ offene Straftatbestände gibt. Das bedeutet, dass das Gesetz zwar den Rahmen einer Straftat beschreibt, aber nicht alle Details genau festlegt. Dies lässt den Gerichten einen Interpretationsspielraum. "So steht dort zum Beispiel die Todesstrafe auf den vagen Straftatbestand 'Feindschaft zu Gott'. Ein großes Thema im letzten Jahr war auch Singapur, wo versucht wurde, das Drogenproblem durch die exzessive Anwendung der Todesstrafe in den Griff zu kriegen", erklärt Meißauer.
Sorge wegen Subsahara-Afrika und den USA
Auf Platz vier der Todestrafen-Statistik steht Somalia. Dort verzeichnete Amnesty International einen "dramatischen Anstieg von Hinrichtungen": Sie sprangen von sechs in 2022 auf 38 in 2023. In der Region Subsahara-Afrika stiegen die registrierten Todesurteile "drastisch" um 66 Prozent: 494 Leben wurden ausgelöscht.
Mit Besorgnis blickt Amnesty International auch auf die USA, wo die Zahl der Hinrichtungen von 18 auf 24 stieg. In den US-Bundesstaaten Idaho und Tennessee wurden Gesetzesentwürfe eingebracht, die Exekutionen durch Erschießungskommandos ermöglichen sollen, während Montana die Ausweitung der Liste der Substanzen für tödliche Injektionen prüft.
Eine Entwicklung, die sich offenbar dieses Jahr fortsetzt. "Im Januar wurde Kenneth Smith im Bundesstaat Alabama durch die unerprobte Methode des Erstickens durch Stickstoffgas getötet, 14 Monate nachdem er einen verpfuschten Hinrichtungsversuch überlebt hatte", so der Todesstrafen-Report von Amnesty International.
Diplomatie im Kampf gegen Todesstrafe
Meist in bilateralen Gesprächen, durch offizielle Protestnoten und durch das Thematisieren der Todesstrafe bei Staatsbesuchen und internationalen Treffen versucht Deutschland, Druck auf Todesstrafen-Länder auszuüben. Amnesty International reicht das nicht. "Wir wünschen uns, dass die Bundesregierung dem Kampf gegen die Todesstrafe noch mehr Gewicht beimisst und im Falle von Ländern, die negativ auffallen, klare diplomatische Konsequenzen folgen lässt", sagt der Menschenrechtler Meißauer.
Im Übrigen stimme er mit Albert Camus vollkommen überein. "Man versucht der Todesstrafe dem Schein nach eine Art Gerechtigkeit zu geben. Aber in Wahrheit geht es um die Befriedigung animalischster Triebe in der Gesellschaft. Mit Gerechtigkeit hat das nichts zu tun. Es ist und bleibt Rache."