Porträt der Holocaust-Überlebenden und Autorin Ruth Klüger
26. Januar 2016"Es gab eine Zeit, als meinesgleichen, also die Juden, ausgestoßen oder getötet wurden in diesem Land", erinnert sich Ruth Klüger im Gespräch mit einem Agentur-Reporter. "Und plötzlich ist da eine Regierung, die Flüchtlinge, die in Lebensgefahr sind, aufnimmt. Das beeindruckt mich sehr." Eine Rede vor dieser Regierung halten zu können, mit Herrn Gauck und Frau Merkel, das sei ihr "eine Ehre". Wie nach der politischen Wende, die sie während einer Gastprofessur Ende der 80er Jahre im niedersächsischen Göttingen erlebte, habe sie auch jetzt "dieses Hochgefühl, dass etwas ganz Neues kommt". Das wolle sie erleben. Die in Wien geborene österreichisch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin lebt seit 1947 in den USA.
Auf Fotos wirkt Ruth Klüger distanziert, jedenfalls seltsam aufgeräumt. Selbst wenn sie lächelt, umspielt ein kämpferischer Zug ihren Mund. Aus ihren Blicken spricht Skepsis, ein Hauch von Misstrauen schwingt mit. Das schöne, neugierig machende Gesicht der 84-Jährigen ist von Falten durchfurcht. Sie hätten viel zu erzählen.
Todesmarsch in die Freiheit
Ruth Klüger kommt am 30. Oktober 1931 in Wien als Kind jüdischer Eltern zur Welt. Sie ist zwölf Jahre alt, als die Nationalsozialisten sie mit ihrer Mutter in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppen. Ein Jahr später wird sie nach Auschwitz-Birkenau und von dort in das Arbeitslager Christianstadt deportiert. Gegen Kriegsende gelingt Klüger auf einem der berüchtigten "Todesmärsche" zusammen mit der Mutter und einer Pflegeschwester die Flucht, die im bayerischen Straubing endet. Der Vater, ein jüdischer Frauenarzt, wird in Auschwitz ermordet.
In Straubing macht Klüger das Abitur und studiert zunächst in Regensburg, bevor sie und die Mutter 1947 in die USA auswandern. In New York studiert sie Bibliothekswissenschaften, im kalifornischen Berkeley Germanistik. Als Germanistin macht Klüger - eine Lessing- und Kleistspezialistin - Karriere als Hochschulprofessorin. Zehn Jahre war Ruth Klüger verheiratet. Aus der Ehe mit dem Historiker Werner T. Angress stammen zwei Söhne.
Literarischer Erfolg mit Erinnerungsbänden
Zwei Aufsehen erregende Erinnerungsbände schreibt Ruth Klüger, außerdem zahlreiche Essaybände und Studien. Klügers Erstling "weiter leben" erscheint 1992 im Göttinger Wallstein Verlag, nachdem der Suhrkamp Verlag das Manuskript aus stilistischen Gründen abgelehnt hat. Die Literaturkritik überschüttet Klüger, die über ihre Jugend im Dritten Reich erzählt, mit Lob. Die Leser greifen zu: 250.000 Mal verkauft sich "weiter leben"und wird in zehn Sprachen übersetzt.
Mit "unterwegs verloren" legt Klüger 2008 den zweiten Teil ihrer Erinnerungen vor. Die Autorin blickt jetzt zurück auf ihre amerikanische Lebensepoche, brandmarkt Rassismus und Diskriminierung im amerikanischen Universitätsbetrieb.
Zeitlebens hat Klüger ein schwieriges Verhältnis zur Mutter, später auch zu den eigenen Kindern. Sie profiliert sich als Feministin. "Aus Notwendigkeit, sich zu behaupten", wie sie sagt, "sich durchzuschlagen, ein einigermaßen würdiges und wertvolles Leben zu führen". Und sie hatte, wie sie dem Spiegel verrät, "Pech mit Männern". Von ihrem Ehemann fühlte sie sich als "Krückstock für seine Karriere" missbraucht: "Ich habe seine Dissertation getippt und in die gemeinsame Kasse gezahlt. Mein Beruf hat ihn nicht interessiert." Auch mit zwei prominenten Männern rechnet sie in Interviews immer wieder ab: mit dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld und mit dem Schriftsteller-Kollegen Martin Walser. Nach Walsers Buch "Tod eines Kritikers" über den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki - aus Klügers Sicht "bösartig und antisemitistisch" - kündigt sie dem langjährigen Freund 2002 die Freundschaft.
Ambivalentes Verhältnis zu Deutschland
"Das war ein enormer Verlust", bekennt sie hinterher, "der auch die Ambivalenz beschreibt, die ich immer wieder gegenüber Deutschland habe. Man weiß halt nicht, was einem dort passieren kann." Das Verdienstkreuz erster Klasse, das man ihr 2008 verleiht, zählt dazu: "Wie zum Kuckuck komme ich dazu? Ich bin keine Deutsche, war es nie. Was habe ich getan, um das zu verdienen?", so Klüger im Spiegel. In Deutschland gebe es heute weniger Antisemitismus. Leben wollte sie hier trotzdem nicht. "Wichtig ist, dass dieser ungeheure Wechsel stattgefunden hat", sagt sie jetzt im Gespräch mit der Deutschen Welle, "dass dies einmal ein sehr fanatisches Land war, nicht nur gegenüber Juden, auch sonst. Und dass es jetzt eine Macht für den Frieden geworden ist."
Hoffnung ist ein zentrales Wort in Klügers Sprache. In "weiter leben" zitiert sie den polnischen Schriftsteller Tadeusz Borowski, der wie sie in Auschwitz-Birkenau war: "Man hat uns nicht gelehrt, die Hoffnung aufzugeben. Deswegen sterben wir im Gas." Ein toller Satz, befindet Klüger, denn Hoffnung mache feige. Klüger bekennt sich zu den eigenen Ressentiments als "angemessene Weise, mit Ungerechtigkeiten umzugehen, gegen die man nichts machen kann." Sie will sich nicht aussöhnen mit den Kriegsverbrechen. "Nichts ist wiedergutzumachen. Was geschehen ist, ist geschehen."
In Kalifornien, wo sie heute "gerne" lebt, liebe sie es zu lesen und zu schreiben. "Ich habe Freunde und keine Angst vor dem Sterben. Man hat keine Aufgaben und keine Verantwortung mehr. Das ist ein Gefühl von Freiheit und Befreiung."