Ambitionierte NATO-Pläne ohne Substanz?
27. Juni 2018Europa soll eine schnelle militärische Eingreiftruppe bekommen. Wie diese sich tatsächlich schnell und problemlos über die Ländergrenzen innerhalb Europas hinweg bewegen soll, darüber beraten die EU-Außenminister mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Angesichts des bevorstehenden NATO-Gipfels nehmen die Gespräche Fahrt auf. Dabei ist das Projekt nicht unumstritten.
Die "European Readiness Initiative" (zu deutsch etwa: Europäische Einsatz-Initiative) ist ambitioniert: Sie verspricht, dass die NATO bis zum Jahr 2020 insgesamt 30 Bataillone, 30 Schlachtschiffe und 30 Flugstaffeln innerhalb von 30 Tagen oder weniger einsatzbereit hat.
Der Plan zum salopp auch "Four Thirties" ("Vier Dreißiger") genannten Projekt geht auf die US-Forderung nach höheren Militärausgaben zurück. Die schnelle Eingreiftruppe soll eine vermeintliche Lücke in der Reaktionsfähigkeit der NATO schließen und damit ihre Glaubwürdigkeit erhöhen. Schon in frühesten Stadien einer Krise sollen erste Truppen einsatzbereit sein und auf die folgenden Entwicklungen reagieren können.
"Wir brauchen das, weil wir eine zunehmend unvorhersehbare Sicherheitslage haben. Wir müssen auf Unvorhergesehenes eingestellt sein," erklärte Stoltenberg Anfang Juni, als die Verteidigungsminister der Vereinbarung zustimmten. "Ich bin mir absolut sicher, dass wir unser Versprechen erfüllen werden", so der NATO-Generalsekretär.
Was nützen Panzer ohne Soldaten?
Andere Beobachter teilen Stoltenbergs Optimismus nicht. Die Bereitstellung von 30 Bataillonen, deren Größe je nach Land variiert, stelle eine enorme logistische, aber auch politische Herausforderung dar. Truppen von 15.000 Mann und mehr, ihre Ausrüstung und Transportfahrzeuge müssten zum Krisenherd verlagert werden. Dabei stellten Ländergrenzen und die damit verbundene Bürokratie genauso hohe Hürden dar wie eine schwierige Verkehrs-Infrastruktur. Schon jetzt erschweren enge Tunnel oder altersschwache Brücken die Verlegung von Truppen innerhalb Europas.
Alice Billon-Galland, Politikberaterin beim Londoner European Leadership Network), ist sehr skeptisch: "Abgesehen davon, dass es wirklich schwierig ist, diese Truppen innerhalb Europas zu bewegen - was soll denn überhaupt zunächst bewegt werden?", fragt sie im Gespräch mit der DW. "Es nützt nicht viel, eine Brücke zu haben, die groß genug ist, dass ein Panzer darüber rollen kann. Man muss auch den entsprechenden Panzer haben. Und die Soldaten für diesen Panzer."
Und mit dem Blick auf Deutschland fügt Billon-Galland zu: "Sie kennen den Zustand der Bundeswehr. Auch die meisten anderen europäischen Armeen sind heute praktisch nicht für gemeinsame Verteidigungsaufgaben einsetzbar."
Zu wenige verfügbare Truppen
Der politische Analyst Michael Shurkin hat die Kapazitäten der britischen, französischen und deutschen Armee analysiert, bewaffnete Brigaden für das Baltikum bereitzustellen und zu unterhalten. Der Experte des US-amerikanischen Thinktanks RAND bescheinigt allen drei Ländern Defizite.
Die Briten seien noch am besten darauf vorbereitet, eine voll bewaffnete Brigade innerhalb von 30 bis 90 Tagen aufzustellen und zu unterhalten. Die französischen Truppen arbeiteten bereits an der Belastungsgrenze.
Deutschland habe nur "zwei Bataillone mit der notwendigen modernen Ausrüstung, die man in eine militärische Auseinandersetzung schicken könnte". Die könnten zwar innerhalb einer Woche einsatzbereit sein. Aber für die Bereitstellung weiterer Einheiten müsste militärisches Gerät von anderen Bundeswehrtruppen abgezogen werden. Das würde anderweitige Einsätze einschränken.
Shurkins Untersuchungen haben darüber hinaus die Herausforderungen bei der Verlegung dieser Einheiten noch gar nicht berücksichtigt. Aber US-Militärs äußern inzwischen laut ihren Frust insbesondere über die deutsche Bürokratie, die noch eher verbessert werden müsste als die Infrastruktur.
Die Geduld des Pentagons ist endlich
Für Tom Goffus, im US-Verteidigungsministerium zuständig für Europa und die NATO, besteht das Problem darin, dass die zuständigen Militär-Strategen davon ausgehen: "Wenn es zum Krieg kommt, wird schon jeder die Panzer durchlassen." Aber das könne man so nicht voraussetzen. "Wir möchten, dass wir bereits in Friedenszeiten in der Lage sind, eine glaubwürdige, verbindliche Einsatzstrategie zu entwickeln."
Im Gegensatz dazu fragt Analystin Billon-Galland, weshalb die USA in dieser Frage solch einen Druck ausübten und sich die Verbündeten dem beugten. In ihren Augen sei es zwar logisch, die Europäer zu einer aktiveren Position zu bewegen. Aber für sie bedeutet das auch "einen riskanten Schritt": "Denn wenn sich herausstellt, dass sie bis 2020 gerade einmal zehn Batallione innerhalb von 45 Tagen zusammen bekommen, dann wirft das auch kein wirklich gutes Licht auf die Allianz."