Alternativer Nobelpreis 2020 verliehen
1. Oktober 2020Ales Beljazki (Belarus)
Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo mögen die neuen prominenten Gesichter der belarussischen Oppositionsbewegung sein, doch der Mann, der Machthaber Alexander Lukaschenko schon seit Jahrzehnten schlaflose Nächte bereitet, ihm keine Menschenrechtsverletzungen durchgehen lässt und die drei Frauen inspiriert hat, ist zweifellos Ales Beljazki.
Der 58-jährige Menschenrechtsaktivist kämpft bereits sein halbes Leben für Demokratie und Freiheit in Belarus, aber an eine Situation wie heute kann auch er sich nicht erinnern: "Der Grad der Repression ist aktuell extrem hoch, so etwas haben wir noch nie gesehen. Wir erleben gerade wirklich ein gesellschaftliches Desaster."
Wohl niemand kann dies besser beurteilen als Beljazki, denn schon Mitte der 80er Jahre, als Belarus noch Teil der Sowjetunion ist und Lukaschenko Sekretär der KPdSU, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, fordert er die Großmacht heraus.
Beljazki organisiert öffentliche Aktionen gegen den Stalinismus und zum Gedenken an die Opfer politischer Repression, für die er zum ersten Mal verhaftet und mit Bußgeldern überhäuft wird. Es ist nur der Anfang. 25 weitere Male landet Beljazki bis heute im Gefängnis, einmal 1052 Tage am Stück.
Doch Schikanen der Regierung spornen ihn seit jeher nur an, und wenn Alexander Lukaschenko der "letzte Diktator Europas" genannt wird, ist Beljazki der erste Menschenrechtshüter von Belarus. Seit 1994, als Lukaschenko an die Macht kommt, seitdem Wahlen fälscht und alles tut, um oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen und die Zivilgesellschaft einzuschränken, hat Bialiatski immer eine freiheitliche Antwort auf die repressiven Maßnahmen parat.
1996 gehört Beljazki zu den Mitbegründern des Menschenrechtszentrums Viasna und ist seitdem dessen Vorsitzender. Am Anfang nur dazu gedacht, inhaftierte Demonstranten und ihre Familien zu unterstützen, ist Viasna heute die führende Nichtregierungsorganisation des Landes. Menschenrechtsverletzungen werden detailliert dokumentiert, Wahlen unabhängig beobachtet und die Versammlungsfreiheit eingefordert. Der Preis ist immens hoch: Immer wieder landen Mitarbeiter im Gefängnis, werden geschlagen und mit Geldstrafen belegt.
Der 1.Oktober dürfte für Beljazki und Viasna mit der Verleihung des Alternativen Nobelpreises ein Feiertag sein. Dabei ist doch schon ein anderer Tag in seinem Kalender rot markiert, der 4. August. Dies ist der internationale Tag der Solidarität mit der Zivilgesellschaft in Belarus – der Tag, an dem Ales Beljazki vor einigen Jahren wieder einmal in Belarus festgenommen wurde.
Lottie Cunningham Wren (Nicaragua)
In der Krise werden wir eine schrillere Version unserer selbst, sagen Verhaltensforscher. Für Lottie Cunningham Wren heißt das, dass sie sich in der Corona-Pandemie noch lauter für die Indigenen in Nicaragua einsetzt, als sie das ohnehin schon seit Jahrzehnten tut.
Cunningham klappert mitten in der Krise die indigenen Gemeinden an der Atlantikküste des mittelamerikanischen Landes ab, sieht vor ihren Augen Menschen an Covid-19 sterben und wird Zeuge, wie die Indigenen verzweifelt mit traditioneller Medizin versuchen, das Virus in den Griff zu bekommen, weil es schlichtweg keine Medikamente gibt.
"Die Menschen glauben, es sei nur Fieber oder eine Grippe, sie denken nicht an das Virus. Und die Krankenschwestern haben noch nicht einmal Paracetamol. Es ist traurig. Sie alle fühlen sich von den lokalen Behörden und der Regierung verlassen", kritisiert Cunningham.
Ein wenig mehr als drei Prozent der Bevölkerung Nicaraguas sind Indigene, sie heißen Miskito, Sumo und Rama, und ihre Situation wäre viel hoffnungsloser, wenn sie nicht dank Lottie Cunningham Wren endlich eine kräftige Stimme hätten. Die 61-jährige Juristin ist Präsidentin des Zentrums für Gerechtigkeit und Menschenrechte der Atlantikküste in Nicaragua, stammt selbst aus der Gruppe der Miskito und ist eine leidenschaftliche Anwältin der Indigenen und Afro-Nicaraguaner. Vor allem, wenn es um Land und Ressourcen geht.
Doch Cunningham ist viel mehr als das – weltweit berufen sich heute Indigene auf sie, wenn es darum geht, Landtitel oder ökologische und kulturelle Rechte einzufordern. Die indigene Welt wäre ohne die Pionierin Cunningham eine andere, schlechtere. 2001 setzt sie am Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte Landrechte für indigenen Boden in Nicaragua durch, die Regierung musste die indigenen Gebiete abgrenzen und beurkunden, ein Präzedenzfall. Zuvor hatte der Staat versucht, die forstwirtschaftlichen Ressourcen ohne Einwilligung der Bewohner auszubeuten.
Die Rechtsanwältin macht sich auch für die Rechte indigener Frauen stark, hat Programme gegen häusliche Gewalt aufgebaut und erklärt Jugendlichen, wie sie Menschenrechtsverletzungen publik machen können. Klar, dass ihr Engagement vielen ein Dorn im Auge ist: Beinahe täglich erhält Cunningham Drohungen, wird eingeschüchtert, 2015 entkommt sie nur knapp einem Entführungsversuch. Doch ans Aufhören denkt sie nicht, und vielleicht verschafft ihr der Alternative Nobelpreis ja ein wenig mehr Sicherheit.
Bryan Stevenson (USA)
Bryan Stevenson ist gerade einmal 16 Jahre alt, als etwas Furchtbares in seinem Leben passiert, aber vielleicht zeigt sein Umgang mit dieser Katastrophe schon damals, dass er anders tickt als viele seiner US-amerikanischen Mitbürger. Stevensons Großvater wird in seinem Haus in Philadelphia während eines Raubüberfalls erstochen.
Die Mörder erhalten lebenslange Haftstrafen, und der Teenager fordert ob des schmerzlichen Verlustes nicht etwa die Todesstrafe, sondern hält das Urteil sogar für fair: "Weil mein Großvater älter war, schien sein Mord besonders grausam. Aber ich kam aus einer Welt, in der wir Erlösung über Rache schätzten."
Diese Welt im kleinen Städtchen Milton im Süden des US-Bundesstaates Delaware ist vor allem dadurch geprägt, dass der Schwarze Bryan Stevenson nicht die gleichen Rechte besitzt wie die weißen Kinder. Um die Zahnarztpraxis zu betreten, muss er die Hintertür benutzen, für eine Polio-Impfung steht er stundenlang Schlange, während die weißen Patienten sofort drankommen. Zwar gehen die Kinder gemeinsam zur Schule, aber gespielt wird getrennt.
Stevenson nutzt jeden freien Moment, um in die Prospect African Methodist Episcopal Church zu gehen, betet, setzt sich ans Klavier und singt im Chor. Aber vor allem lernt er in der Kirche, dass man nach jedem Sturz wieder aufstehen muss – erstaunt sieht er, dass die Menschen, die das tun, in der Kirche stehende Ovationen erhalten. Sein tiefer Glaube lässt bei Stevenson die Erkenntnis reifen, dass"jeder und jede von uns mehr als das Schlimmste ist, was wir je getan haben".
Der Kampf für Gerechtigkeit und gegen systemischen Rassismus werden zu seinen Lebensaufgaben: Heute ist Stevenson einer der führenden US-amerikanischen Bürgerrechtsanwälte. Sein Ziel: Gleiches Recht für alle und eine Reform des US-Strafrechtssystems, in dem es für Schwarze weitaus wahrscheinlicher ist, zum Tode verurteilt zu werden als für Weiße. Obwohl Afroamerikaner nur 13 Prozent der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten ausmachen, ist jeder dritte Häftling im Todestrakt schwarz.
1989 gründet Stevenson, lautstarker Gegner der Todesstrafe, eine Organisation, die sich heute Equal Justice Initiative nennt. Sie setzt sich für Menschen in der Todeszelle ein und hat schon für mehr als 140 unrechtmäßig zum Tode Verurteilte eine Entlassung, Hafterleichterung oder eine Revision des Urteils erreicht.
Mitten im Herzen der Südstaaten, in Montgomery, Alabama, steht dank Stevenson seit drei Jahren auf knapp 2,5 Hektar die erste Gedenkstätte des Landes, die dem Erbe der versklavten schwarzen Menschen gewidmet ist. Vor einem Jahr erschien sogar ein Film über das Leben des 60-jährigen Rechtsanwalts. Der Titel: "Gerechte Gnade".
Nasrin Sotoudeh (Iran)
Ales Beljazki, Lottie Cunningham und Bryan Stevenson werden an diesem Donnerstag weltweit für ihr Engagement gefeiert werden, sie werden viele Interviews für die Presse geben müssen und vielleicht auch zur Feier des Tages auf ihre Auszeichnung anstoßen. Die vierte Preisträgerin, vielleicht die Mutigste von allen, wird dagegen aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht mitbekommen, dass sie ausgezeichnet wurde.
Nasrin Sotoudeh sitzt als politische Gefangene im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran. Nach einem fast zwei Monate langen Hungerstreik wog die iranische Rechtsanwältin jetzt gerade einmal 47 Kilogramm.
Wer verstehen will, wie gefährlich es ist, im Iran für Menschenrechte einzustehen, muss die Geschichte von Sotoudeh kennen. Obwohl sie ihr Examen schon 1995 besteht, muss Sotoudeh acht Jahre auf ihre Zulassung zur Menschenrechtsanwältin warten – als Journalistin für reformorientierte Zeitungen ist sie ins Visier des Regimes geraten. 2006 kämpft sie in der iranischen Frauenbewegung mit der Kampagne "Eine Million Unterschriften" für die Änderung diskriminierender Gesetze.
Drei Jahre später wählt die Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi natürlich Sotoudehs Nummer, als ihr Vermögen nach den Wahlen 2009 beschlagnahmt wird und sie händeringend eine Anwältin sucht. Die Juristin vertritt aber im selben Jahr auch weniger bekannte Personen: Als die "Grüne Revolution" anlässlich der Wahlen niedergeschlagen wird, verteidigt sie zahlreiche Aktivisten, die während der Demonstrationen verhaftet werden.
Die Sacharow-Preisträgerin kämpft vor Gericht für Studenten, für Journalisten und für Minderjährige, die zum Tode verurteilt wurden. 2018 verteidigt sie drei "Mädchen der Revolutionsstraße", die gegen die Gesetze zum verpflichtenden Tragen des Hidschab aufbegehren und dafür öffentlich ihre Kopftücher ablegen. Es ist ein furchtloser Kampf gegen ein repressives Regime, für den die Mutter von zwei Kindern jedes persönliche Risiko eingeht – ein Kampf wie David gegen Goliath.
Im September 2010 wird Sotoudeh das erste Mal verhaftet, kommt in Einzelhaft, darf ihren Mann und ihre kleinen Kinder nicht sehen und tritt aus Protest gegen die unmenschlichen Haftbedingungen mehrfach in den Hungerstreik. Wegen des internationalen Drucks kommt sie 2013 frei, doch fünf Jahre später landet sie erneut im Gefängnis – wegen angeblicher "Handlungen gegen die nationale Sicherheit". Insgesamt 38 Jahre Haft und 148 Peitschenhiebe lautet das drakonische Urteil. Als die Regierung wegen der Corona-Pandemie 85.000 Gefangene freilässt, ist sie nicht dabei.
Wenn man ihrem Mann Reza Kahndan zuhört, muss man sich große Sorgen um die alternative Nobelpreisträgerin machen: "Ihr Tun hat Einfluss auf die Menschen im Land, und das System versucht, das zu unterdrücken. Aber jetzt ist sie sehr schwach, viel schwächer, als man sich das vorstellen kann. Diesmal steht es ernst um sie."