Das erste Aufeinandertreffen von Tottenham und Leipzig
17. Februar 2020Der Charterflug von London nach Leipzig am 10. August 1974 stand kurz vor dem Eintritt in den ostdeutschen Luftraum, als der Kapitän die Passagiere aufforderte, die Fensterblenden herunterzuziehen. Die meisten der 150 Passagiere waren Anhänger von Tottenham Hotspur. Sie waren die wenigen Glücklichen, die zum UEFA-Pokal-Halbfinal-Hinspiel gegen Lokomotive Leipzig reisen durften, aber sie durften nicht aus den Fenstern und in die Deutsche Demokratische Republik schauen.
Einige andere darunter waren jedoch keine Fußballfans. "Sieben oder acht Männer standen plötzlich auf. Sie kontrollierten alle unsere Pässe und sagten uns, wir sollten alles auf unseren Sitzen lassen", erinnert sich Spurs-Fan Glen Crook. "Pässe, Geld, Kameras. Keine Fotos erlaubt. Sie sagten, wir könnten alles abholen, wenn wir zum Flugzeug zurückkommen."
Es war Crooks erste Begegnung mit der ostdeutschen Geheimpolizei, der Staatssicherheit, kurz Stasi. "Sie sagten uns, dass wir bei der Landung mit keinem Deutschen sprechen dürften. Nicht einmal mit den Ordnern an den Drehkreuzen im Stadion. Keine Interaktion, nicht einmal, um sich zu bedanken. Es war sehr einschüchternd."
Kein Blick auf die Stadt erlaubt
Am Flughafen angekommen, bestiegen die englischen Fans Busse mit verdunkelten Fenstern, die sie direkt zum Zentralstadion brachten. Sie sahen nichts von der Stadt Leipzig. Sie nahmen ihre Plätze ein. Die offizielle Besucherzahl war mit 74.000 angegeben - ausverkauft - aber Crook ist überzeugt, dass es noch mehr waren.
"Der Lärm war unglaublich", erinnert er sich. "Es war nicht feindselig oder aggressiv. Die Leipziger Fans waren absolut großartig, aber es muss für die Spieler auf dem Spielfeld einschüchternd gewesen sein."
Doch Tottenham war nicht zu beeindrucken und gewann nach zwei schnellen Toren mit 2:1. Das Rückspiel in der White Hart Lane, wo die Spurs ihre letzten 25 Europapokal-Heimspiele nicht verloren hatten, endete ebenfalls mit einem Sieg der Londoner: 2:0.
"Wie das im Fußball halt so ist, war Tottenham einfach die bessere Mannschaft", erinnert sich der ehemalige Lokomotive-Mittelfeldspieler Rainer Lisiewicz. "Wir hatten uns schon damit abgefunden, dass bei Tottenham wahrscheinlich nichts zu holen ist."
Im Schatten der Stasi
Als Fußballspieler waren Lisiewicz und seine Mannschaftskameraden in der DDR in einer privilegierten Lage, durften sie doch sogar in den Westen reisen. "Wir dachten, ja einmal auf die Insel zu fahren wär doch ganz schön. Wir waren natürlich gut vorbereitet von unseren Genossen", sagt Lisiewicz, wie er sarkastisch auf seine alten "Genossen" von der regierenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) verweist.
"Im Vorfeld wurden wir instruiert, dass wir in ein Land reisen, in dem die Arbeiterklasse von der herrschenden Klasse ausgebeutet wird. In dem sich viele Leute teure Lebensmittel nicht leisten konnten und auch mal ranzige Butter essen müssten. Wir sollten uns nicht blenden lassen von den schönen Vorgärten, das seien nicht die Häuser der Arbeiterklasse, das ist ein kapitalistisches System."
Nicht, dass die Spieler wirklich etwas davon glaubten. Westdeutsches Fernsehen und Radio ware in vielen Teilen Ostdeutschlands empfangbar, und die Spieler wussten genau, was sie auf ihren Reisen in das "nicht-sozialistische Ausland" erwartete. "Es sind Leute mitgefahren oder mitgeflogen, das hat man mitgekriegt, da hast du dir gedacht, ja das ist bestimmt einer von der 'Firma'. Also von der Staatssicherheit", sagt Lisiewicz.
Mehrere hochkarätige ostdeutsche Fußballer liefen während des Kalten Krieges in den Westen über, darunter die BFC Dynamo-Spieler Falko Götz, Dirk Schlegen und Lutz Eigendorf. Letzterer, 1979 übergelaufen, starb 1983 an den Folgen eines Autounfalls, in den vermutlich die Stasi verwickelt war. Doch Lisiewicz besteht darauf, dass es den Spielern von Lok Leipzig damals nicht in den Sinn gekommen sei, die DDR zu verlassen.
Leipzigs Modell vom modernen Fußball
Lisiewicz glaubt, dass der Fußball hinter dem Eisernen Vorhang fortschrittlicher war, als viele westliche Zeitgenossen es ihm zugestehen wollen. 46 Jahre später ist die Stadt Leipzig erneut für ihren "modernen Fußball" bekannt - in mehrfacher Hinsicht. Tottenhams Champions-League-Gegner im Achtelfinale ist nicht Lokomotive Leipzig, sondern RB Leipzig, das in dieser Saison mit seinem aggressiven Spielstil unter dem jungen Cheftrainer Julian Nagelsmann für Furore sorgt. Das Hinspiel in London gewannen die Leipziger mit 1:0.
Der Klub verkörpert aber auch die kommerziellen Exzesse des modernen Spiels und ist seit seiner Gründung durch den österreichischen Energy-Drink-Hersteller Red Bull im Jahr 2009 immer wieder in die Kritik geraten. Viele deutsche Fans halten ihn für eine "Plastikkonstruktion", ein Marketinginstrument, das die deutsche Fußballkultur zum Gespött macht. Dennoch genießt RB in Leipzig Unterstützung - auch von Lok-Legende Lisiewicz.
"Ich gehöre zu denen, die sagen, du musst diesen Verein einfach akzeptieren", sagt er. "In Leipzig wird Bundesliga gespielt, und wir sind auch noch vorn! Das ist schon eine tolle Leistung. Die haben es richtig gemacht."
Lok Leipzig heute in der Regionalliga
Heute spielt der 2003 mit Lisiewicz als Trainer reformierte Klub Lokomotive Leipzig in der vierten Liga und steht dort an der Spitze der Tabelle. Aber das ist weit entfernt von den aufregenden Tagen des Jahres 1974, als man an der White Hart Lane mit 0:2 verlor und aus dem UEFA-Pokal ausschied. "Die Atmosphäre in England war fantastisch", sagt Lisiewicz. "Die Zuschauer waren so eng am Platz dran, fast direkt an der Seitenlinie." Die Begegnung allerdings wurde bereits im Hinspiel entschieden.
"Nach dem Spiel ging es direkt wieder in die Busse und ins Flugzeug", erinnert sich Spurs-Fan Glen Crook an das Ende seines Ausflugs nach Leipzig. "Als wir wieder in den westdeutschen Luftraum einflogen, sagte der Pilot, wir könnten die Blenden öffnen und wieder aus den Fenstern schauen."