Polen geht die Kohle aus
3. November 2022"595 Euro pro Tonne. Schlimm", sagt die blonde Frau mittleren Alters, die hinter dem Steuer eines abgenutzten BMW sitzt. Sie ist gerade vom Hof des Kohlebergwerks "Silesia" in Czechowice-Dziedzice in Südpolen gefahren, wo sie nach den aktuellen Preisen für den Brennstoff gefragt hat. Im Auto sitzen noch zwei ihrer Freundinnen - alle auf der Suche nach Kohle. Im Idealfall sollte die von guter Qualität und billig sein, so wie es noch vor einem Jahr war, als der Brennstoff noch aus Russland kam.
Zurzeit aber kostet hochwertige Kohle pro Tonne bis zu 637 Euro. Das entspricht einem Monatslohn vieler Bewohner Oberschlesiens. "Ich brauche mindestens drei Tonnen für den Winter", meint die Frau im Gespräch mit der DW. Damit liegt sie im Durchschnitt: Um ein Einfamilienhaus zu heizen, braucht man circa drei bis vier Tonnen Kohle pro Winter. Bisher kam man mit umgerechnet 400-600 Euro gut über die Heizperiode. In diesem Jahr aber muss man mit einem Vielfachen rechnen.
Die Frau im BMW entscheidet sich heute gegen einen Kauf. "Wir fahren nach Hause, trinken einen Kaffee und überlegen, wie es weitergeht", lacht sie. Doch viel Zeit zum Nachdenken bleibt nicht mehr: Ende Oktober 2022 ist es für diese Jahreszeit zwar noch recht warm - aber die Prognosen deuten darauf hin, dass die Temperaturen schon im November stark sinken werden.
Kohleland Polen
In Polen hat Kohle, das "schwarze Gold", Tradition. Es ist vor allem mit der Region Oberschlesien verbunden, wo über zweihundert Jahre Steinkohle gefördert wurde und nun der Umstieg auf andere Energiequellen vorbereitet wird. Bis 2049 will Polen aus der Kohleförderung aussteigen. Doch derzeit wird der fossile Brennstoff noch gebraucht, denn er ist noch immer die einzige Wärmequelle für mehr als drei Millionen Haushalte, so das polnische Ministerium für Klima und Umwelt.
Dabei wurde es der Kohle in Polen keineswegs leicht gemacht: Zwar unterstützte die Regierung unter Führung der nationalkonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) den weiteren Betrieb der Bergwerke offiziell; gleichzeitig jedoch wurde stillschweigend akzeptiert, dass es notwendig ist, die polnische Bergbauindustrie langsam abzubauen, da sie Milliardenverluste macht.
Während der heimische Bergbau stetig reduziert wurde, wurde billigere und bessere Kohle aus Russland importiert - vor allem, um Polens Privathäuser zu beheizen. Der russische Einmarsch in die Ukraine und das sofortige Embargo der polnischen Regierung für russische Kohle führten dazu, dass die Menschen nun nach Alternativen suchen müssen.
Staatliche Vergabe funktioniert kaum
"Früher hat man die Kohle einfach in einem Lager bestellt. Man vereinbarte einen Termin und der Lieferwagen kam mit der Ware zu dir nach Hause", sagt Stefan Jajszczok aus Bielsko-Biala, das 15 Kilometer südlich des Bergwerks Silesia liegt. Doch in den Lagern sind überhöhte Preise an der Tagesordnung. Jajszczok hat daher begonnen, im Internet nach günstigeren Angeboten zu suchen.
Im Online-Shop der staatlichen polnischen Bergbaufirma scheinen die Preise niedrig zu sein. Sie beginnen bei knapp 319 Euro pro Tonne - weniger als die Hälfte vieler sonstiger Angebote. "Leider ist das nur die Theorie", sagt Jajszczok. Denn bei all den Kohlesorten im Sonderangebot wird in roter Farbe angezeigt, dass sie gar nicht vorrätig sind. "Man muss sich dienstags oder donnerstags um 16 Uhr einloggen, die Seite aktualisieren und auf sein Glück hoffen", erklärt Jajszczok. Wenige Minuten, nachdem die Angebote angezeigt werden, kann es schon zu spät sein. Außerdem ist die Webseite aufgrund des großen Interesses regelmäßig nicht erreichbar.
Kohle einkaufen im Internet
Jajszczok hat viele Wochen lang versucht, auf diese Weise online Kohle zu kaufen. Ratschläge und Tipps dazu sind seit Monaten eines der beliebtesten Themen im polnischen Internet. Wer es schafft, auf diese Weise Kohle zu ergattern, kann gar mit fünf Minuten Ruhm rechnen: Journalisten bitten um Interviews und ihre Beiträge verbreiten sich blitzschnell in den sozialen Medien.
Auch Jajszczok kauft schließlich über die Seite der staatlichen polnischen Bergbaugruppe zwei Tonnen Kohle. Und das, obwohl er sein Haus schon seit mehreren Jahren nicht mehr mit dem fossilen Brennstoff heizt. "Um 2010 hatten wir noch einen Ofen, in dem wir den schlimmsten Kohlendreck verbrannt haben. Dann haben wir ein Gerät der neueren Generation gekauft".
Dank eines Zuschusses der Stadt schaffte Jajszczok den Kohleofen schließlich ganz ab und installierte eine Gasanlage. Außerdem hat er einen Kamin, der an die Heizungsanlage des Hauses angeschlossen ist, sowie eine Wärmepumpe und Photovoltaik auf dem Dach. Warum braucht er also Kohle? "Ich kaufe für die Familie. Meine Schwägerin kommt mit dem Internet nicht zurecht. Viele ältere Menschen kommen mit der Situation nicht klar", erklärt Jajszczok.
Panikkäufe in der Bergbauregion
Die Einwohner Schlesiens, die mit dem Online-Kauf nicht zurechtkommen und nicht zu viel Geld in den Kohlehandlungen bezahlen wollen, gehen direkt zu den Bergwerken. "Ich habe hier sechs Stunden angestanden", sagt Iwona, die am Eingangstor des Bergwerks in Brzeszcze, einer Stadt in der Nähe von Oswiecim, wartet. Der kalte Herbstanfang im September hat bei denjenigen, die mit Kohle heizen, Panik ausgelöst. Tausende standen Tag und Nacht vor Polens Bergwerken, um sich für den Kauf des Brennstoffs anzumelden.
Iwona schaffte es am 5. September 2022 auf die Warteliste. Aber erst acht Wochen später erhielt sie eine Nachricht vom Bergwerk, dass sie vorbeikommen und bestätigen sollte, dass sie die vorbestellte Kohle auch kaufen will. Erst einen Tag später wurde der Brennstoff geliefert. Es ist ein kompliziertes und bürokratisches Verfahren, aber für Iwona ist das nebensächlich. "Das Wichtigste ist, dass es jetzt warm ist", sagt sie fröhlich.
Ballastkohle, Autoreifen, Müll
Die Mehrzahl der drei Millionen kohlebeheizten Haushalte in Polen wird von älteren und ärmeren Menschen bewohnt. Die Jüngeren und Wohlhabenderen haben in den letzten zwei Jahrzehnten in andere Energiequellen investiert, meist in Gas oder Wärmepumpen. Für solche Investitionen wurden oftmals öffentliche Zuschüsse gewährt. Kohle bleibt damit in Kleinstädten und Dörfern dominant. Und die dortigen alten, ungedämmten Häuser brauchen viel mehr Energie, um warm zu werden.
Das weiß auch Jaroslaw Kaczynski, Vorsitzender der nationalkonservativen Regierungspartei. Bei einem Treffen mit Wählern sagte er am 4. September 2022: "Man muss im Moment alles verbrennen, außer Autoreifen. Polen muss sich ja irgendwie aufwärmen." Dass viele Polen alles verbrennen, führt unterdes zu gesundheitsgefährdendem Smog. Die schlechteste Luftqualität herrscht dabei in Schlesien.
Dort riecht es überall süßlich oder nach Plastik, aus vielen Schornsteinen steigt gelblicher, dichter Rauch auf. Die Ordnungsämter verhängen zwar Strafen für das Verheizen nicht geeigneter Brennstoffe, aber die sind so gering, dass sie die Menschen nicht davon abhalten, neben Kohle und Holz auch alte Möbel oder Müll zu verbrennen. Und das fordert seinen Tribut: Die Organisation "Polnischer Smogalarm" geht davon aus, dass in Polen jährlich bis zu 45.000 Menschen aufgrund der verschmutzten Luft sterben.
Der Mangel an Kohle in diesem Jahr hat wohl seinen Preis - für die Umwelt und die Gesundheit der Polen. Denn die Regierung hat ein Gesetz auf den Weg gebracht, dass das Verbrennen von minderwertiger Ballastkohle, bei der eine sehr große Menge an giftigen und krebserregenden Stoffen freigesetzt wird, wieder erlaubt.
"Den Leuten wird schon warm werden", sagt ein Kohlehändler vor dem Bergwerk Brzeszcze. "Die Frage ist aber: Was werden sie verheizen?"