Algeriens Phantom-Präsident
5. März 2019Wo ist der Präsident? Hat er sich längst ins Ausland abgesetzt? Das fragten sich viele, angesichts von Chaos und Massendemonstrationen im ganzen Land. "Das Volk will den Sturz des Regimes", skandierten Menschen landesweit auf den Straßen und forderten den sofortigen Rücktritt des Präsidenten. Dann ein letzter gespenstischer Moment: Noch einmal erschien das Gesicht des ungeliebten Staatsoberhaupts auf den Fernsehbildschirmen der Nation. Wer Chaos stifte und die Stabilität des Landes unterminiere, werde unbarmherzig bestraft, drohte der Präsident. Aber er versprach seinem Volk auch mehr Jobs und politische Reformen.
Gerettet hat ihn das nicht. Nur vier Tage später war Tunesiens Langzeitherrscher Geschichte. Die "Jasminrevolution" im Januar 2011 hatte der Diktatur von Zine el Abidine Ben Ali ein jähes Ende bereitet. Seitdem ringt das Land mit europäischer Unterstützung um seinen eigenen Weg in Richtung Demokratie und Pluralismus - als einziges Erfolgsbeispiel aus den arabischen Volksaufständen 2011 und 2012, die andernorts in Chaos, Bürgerkriege oder neue Autokratien mündeten.
Verspäteter Frühling?
Erlebt nun auch Tunesiens Nachbar Algerien seinen verspäteten "Arabischen Frühling"? Parallelen sind durchaus erkennbar. Wie seinerzeit in Tunesien, Ägypten, Syrien und Libyen richtet sich auch in Algerien der Zorn der Massen vor allem gegen das amtierende Staatsoberhaupt: Der 82 Jahre alte Abdelaziz Bouteflika regiert das 40-Millionen-Einwohner-Land ununterbrochen seit 1999 und soll bei den Präsidentschaftswahlen am 18. April bereits zum fünften Mal in Folge antreten.
Anders als Ben Ali oder Hosni Mubarak ist Bouteflika jedoch nicht unbedingt als Person verhasst. Vor allem ältere Bürger würdigen bis heute seine Verdienste im algerischen Unabhängigkeitskrieg gegen die französische Kolonialmacht sowie später bei der Beendigung des algerischen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren. Dieser hatte nach Schätzungen bis zu 200.000 Menschenleben gekostet, Bouteflika konnte ihn seinerzeit unter anderem durch eine Amnestie für Islamisten entschärfen. Der Zorn der überwiegend jugendlichen Demonstranten, die seit Wochen in Algier und vielen weiteren Städten auf die Straße gehen, richtet sich vielmehr gegen die undurchsichtigen Verhältnisse, unter denen Algerien seit Jahrzehnten in seiner Entwicklung stagniert. Während viele junge Menschen keine Jobs finden können, grassiert im ganzen Land die Korruption. Der Ressourcenreichtum kommt nur wenigen zugute, politisch bewegt sich fast gar nichts. In einem Land, dessen Bevölkerung zur Hälfte unter 30 Jahre alt ist, sind insbesondere die fehlenden Zukunftsperspektiven der Jugend ein gefährliches Konfliktpotenzial.
Abwesender Staatschef
Bouteflika verkörpert diese Verhältnisse symbolisch wie kein anderer. Völlig unklar ist jedoch, ob und inwieweit er sie heute selbst noch prägt. Der gealterte Staatsführer sitzt seit einem Schlaganfall im Jahr 2013 im Rollstuhl. Zu seinem Volk hat er seit vielen Jahren nicht mehr direkt gesprochen. Präsidentielle Verlautbarungen kennen jüngere Algerier nur in Form von verlesenen Mitteilungen wie am vergangenen Sonntag: Bouteflika werde zwar wie geplant zur Wahl antreten, so die Botschaft, die als "Brief" des schwerkranken Präsidenten im Fernsehen vorgelesen wurde. Danach werde er jedoch umgehend Reformen, Neuwahlen und seinen eigenen politischen Rückzug einleiten. "Ich habe zugehört und die Rufe aus den Herzen der Demonstranten vernommen", wurde Bouteflika zitiert. Beweise dafür, dass er dies wirklich selbst gesagt hat, gibt es nicht. Die 40 Millionen Algerier erleben ihren ersten Mann im Staate nur als Phantom-Präsidenten.
Kann Bouteflika angesichts seiner angeschlagenen Gesundheit überhaupt noch eigenständig handeln und entscheiden? Darüber herrscht seit Jahren Ungewissheit. Der Gesundheitszustand des Präsidenten wird in Algerien wie ein Staatsgeheimnis behandelt. Der algerische Botschafter in Frankreich sah sich dieser Tage sogar gezwungen, Todesgerüchte über Bouteflika zu dementieren. Und im arabischen Programm der DW hatte ein führendes Mitglied aus Bouteflikas Partei trotz mehrfachen Nachbohrens keine plausible Antwort auf die Frage, auf welche Weise denn der schwerkranke Präsident seinen Brief an das Volk verfasst haben soll.
Komplexes Machtgeflecht
Beobachter sind sich einig, dass die Person Bouteflika heute letztlich nur eine Kompromiss-Figur zwischen den Kräften ist, die in Form eines komplexen Machtgeflechts im Hintergrund schon seit langem das Schicksal des Landes bestimmen: Oligarchen und Militärs sowie Spitzenpolitiker verschiedener Parteien. Die Algerier nennen dieses Geflecht "le pouvoir" - "die Macht". Bouteflikas Bruder Said wird ebenso zum inneren Machtzirkel gerechnet wie der Generalstabschef Gaid Saleh und der Großindustrielle Ali Haddad. Auch die Interessen verschiedener Clans und Regionen sind in diesem komplizierten System mit berücksichtigt.
Seit vielen Jahren haben sich die Mächtigen im Hintergrund auf keinen Nachfolger für Bouteflika einigen können, nun droht ihnen die Situation zu entgleiten - und damit ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Privilegien. Sie müssen sich neu positionieren. Generalstabschef Saleh machte am Dienstag den Anfang: Einige Kräfte wollten Algerien zurück in die "Ära des extremen Schmerzes" zurückführen, erklärte er düster in Anspielung auf den Bürgerkrieg in den 1990er Jahren. Die Armee werde einen Zusammenbruch der öffentlichen Sicherheit aber keinesfalls zulassen, betonte er. Dies konnte durchaus als Drohung verstanden werden.
Von einem erfolgreichen Aufstand gegen das Regime über neue Formel-Kompromisse hinter den Kulissen bis hin zu einem Militärputsch - viele Optionen sind derzeit denkbar, aber nur wenige verheißen Stabilität. Sicher scheint nur: Algerien geht unruhigen Zeiten entgegen. Anders als Ben Ali in Tunesien würde Bouteflika nach derzeitigem Stand jedoch nicht ins Ausland fliehen müssen, sollten die Demonstranten sich durchsetzen und seiner politischen Karriere ein baldiges Ende bereiten. Er ist bereits seit Wochen außer Landes. Während sein Volk wütend gegen seine neuerliche Kandidatur protestiert, befindet sich der kranke Mann von Algier in Genf, angeblich zu "medizinischen Routine-Checks".