Albanien empfängt erste Flüchtlinge für Italien
17. Oktober 2024Es ist ein sonniger und warmer Herbsttag im Dorf Gjader im Norden Albaniens. Die Rentnerin Dile Vlashaj, 65, steht in ihrem Garten, jätet mit einer Hacke Unkraut um die Lauchpflanzen herum und lockert den Boden auf.
Sie arbeitet unbekümmert, obwohl nur ein paar Meter von ihrem Haus entfernt Dutzende Journalisten aus ganz Europa stehen. Sie berichten über das Flüchtlingslager am Ortsrand, in das an diesem Tag erstmals Migranten aus Italien gebracht werden.
Gjader, ein verschlafener Ort, ist nun ins Zentrum europäischer Flüchtlings- und Asylpolitik gerückt. Dile Vlashaj, die hier, am Rand von Gjader, mit ihrem Mann lebt, hat selbst Erfahrung mit Flucht und Migration.
Ihre beiden Kinder leben seit Jahren in Italien, "auf der Suche nach einem besseren Leben", wie sie erzählt. Über die Flüchtlinge, die nun herkommen, sagt sie: "Da sind doch auch Menschen, sie sind aus Not gekommen."
Dann fügt sie hinzu, dass ihr ein wenig bange sei. Hoffentlich bleibe alles sicher, nun, da so viele Flüchtlinge kämen.
Gjader, früher 2000 Einwohner, hatte in der Zeit der albanischen kommunistischen Diktatur einen Militärflughafen, die Flugzeuge waren in Kavernen untergebracht. Von der Luftwaffenbasis sind heute nur noch verlassene Gebäude übrig. Die Start- und Landebahnen und Tunnel zu den Kavernen werden von Soldaten bewacht.
Der Ort hat noch um die 700 Einwohner, überwiegend ältere Leute. Die jüngeren sind fast alle ins Ausland abgewandert. Sie schicken ihren Eltern Geld nach Hause, da es außer Subsistenzlandwirtschaft kaum Arbeit gibt in Gjader.
Ganze 16 Flüchtlinge
Seit Italien und Albanien im November 2023 vereinbarten, an der nordalbanischen Adria-Küste ein Aufnahmezentrum für Migranten einzurichten, ist man in Gjader Journalisten gewohnt. Doch an diesem Mittwoch (16.10.2024) sind es so viele wie nie zuvor.
Sie beobachten, wie gegen acht Uhr morgens das italienische Marineschiff "Libra" im Hafen von Shengjin anlegt, rund 22 Kilometer vom Dorf Gjader entfernt. Es bringt ganze 16 Flüchtlinge, die in Gjader untergebracht werden sollen.
Zehn kommen aus Bangladesch, sechs aus Ägypten. Sie wurden von der italienischen Küstenwache aus Seenot gerettet, nachdem ihr Boot libysche Küstengewässer verlassen hatte.
Vier der 16 Flüchtlinge werden gleich weiter nach Italien geschickt, zwei Minderjährige und zwei, die über gesundheitliche Probleme geklagt hatten.
Die anderen zwölf gehen zu Fuß in das so genannte Empfangszentrum. Die Journalisten dürfen aus einiger Entfernung zusehen, ein direkter Kontakt zu den Flüchtlingen ist nicht erlaubt.
"Der europäische Traum endet hier"
Vor dem Empfangszentrum wartet auch eine Gruppe von Aktivisten. Sie stehen da mit Transparenten in den Händen. "Der europäische Traum endet hier", heißt es auf einem in englischer Sprache. Die jungen Leute kommen allesamt aus der Umgegend von Gjader, sie protestieren schon seit langem gegen das Flüchtlingslager.
Anfangs forderten sie einen Stopp des Abkommens zwischen Italien und Albanien. Jetzt, da das Camp weitgehend aufgebaut ist, sind sie zwar immer noch dagegen, verlangen aber erst einmal öffentliche Diskussionen mit der Regierung und Sicherheitsgarantien.
"Wir verlangen, dass unser Staat garantiert, dass es keinen Anstieg der Kriminalität oder Menschenhandel geben wird", sagt Mariglend Doci, 29, aus Mamurras, einer Kleinstadt auf halbem Wege nach Tirana. Doci hat Politikwissenschaften studiert und arbeitet nun in der Firma der Familie. Worin deren Tätigkeit besteht, möchte er nicht sagen.
Um 11:30 Uhr werden die Flüchtlinge aus dem Empfangszentrum in das Lager nach Gjader gebracht. Wieder können die Journalisten alles nur aus der Ferne verfolgen.
Das Lager selbst liegt etwas abseits des Ortszentrums, auf der rechten Seite des Flusses Drin. Es sieht aus wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Die mehrere Meter hohen Metallzäune sind mit graugrünen Planen bedeckt, damit man nicht hineinsehen kann.
Bei einem Pressetermin vor einigen Tagen durften Journalisten im Lager Fotos machen. Das Lager besteht aus Containerunterkünften und ist von einer doppelten Reihe Metallzäunen umgeben. Auch zwei Gefängnisbaracken gibt es.
Hoffnung auf Arbeitsplätze
Die Ankunft der Flüchtlinge ist seit Monaten das Hauptthema in Gjader. Viele Leute sagen, anfangs seien sie skeptisch gewesen und hätten Befürchtungen gehabt. Inzwischen hoffen sie, dass der Ort in irgendeiner Weise von dem Flüchtlingslager profitiert, dass es vielleicht neue Arbeitsplätze gibt.
Namentlich möchte sich jedoch niemand äußern, und schon gar nicht wollen sich die Leute fotografieren lassen. "Einige Einwohner haben sich große Sorgen gemacht", sagt der gewählte Ortsvorsteher Aleksander Preka, "aber die verblassten angesichts der Einnahmen, die der Bau des Lagers im Dorf mit sich brachte."
Ein Teil der Bewohner des Dorfes und der Umgebung sind bereits als Arbeitskräfte im und um das Lager beschäftigt, hauptsächlich für die Instandhaltung und Reinigung. "Das bedeutet mehr Entwicklung für die Gegend und mehr Wohlstand für uns", sagt Preka.
Auch er möchte betonen, dass die Albaner ein gastfreundliches Volk seien. "Unsere Tür ist für Menschen in Not immer offen", sagt er.
Faktisch ist Albaniens Tür allerdings nicht offen. Das zwischen Italien und Albanien geschlossene Abkommen sieht vor, dass Albanien bis zu 36.000 Flüchtlinge im Jahr aufnimmt. In Gjader werden sie untergebracht, solange der italienische Staat ihre Asylanträge prüft.
Innerhalb von 28 Tagen sollen die Flüchtlinge eine Antwort erhalten. Falls ihr Antrag angenommen wird, werden sie nach Italien zurückgebracht. Alle anderen sollen in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden.
Während Dila Vlashaj in der warmen Herbstsonne weiterhin die Erde in ihrem Lauchbeet lockert, wird sie im Gespräch schließlich doch etwas unruhig. Sie hofft, dass der Staat im Flüchtlingslager alle versprochenen Regeln einhält. "Wir wollen keine Probleme im Ort", sagt sie.