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Afghanische Ortskräfte bangen um ihr Leben

7. Juli 2022

Rund ein Jahr nach Abzug der deutschen Truppen warten immer noch tausende Ortskräfte und Gefährdete auf Evakuierung. Betroffene und Hilfsorganisationen kritisieren die Bundesregierung.

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Frauen mit Kopftüchern, Kinder und Männer stehen in einer Warteschlange vor mehreren Bussen
Usbekistan, August 2021: Diese Menschen wurden von der Bundeswehr aus Afghanistan evakuiertBild: Marc Tessensohn/Bundeswehr/dpa/picture alliance

"Wir haben Angst vor den Taliban. Die bringen uns um, wenn sie uns finden", sagt Mustafa in fast sachlichem Ton. Mustafa (sein vollständiger Name ist der Redaktion bekannt), seine Frau und die beiden kleinen Kinder halten sich in der Hauptstadt Kabul versteckt.

Sie gehen so gut wie nicht mehr vor die Tür. Einkaufen: unmöglich. An einen Schul- oder Kitabesuch für die Kinder sei nicht zu denken, berichtet Mustafa Anfang Juli der DW am Telefon: "Wir harren aus und warten immer noch auf den erlösenden Anruf aus Deutschland: Macht euch fertig für die Ausreise! Doch der kommt einfach nicht."

Zwei Bundeswehrsoldaten in Uniform sprechen mit einem afghanischen Dolmetscher in traditioneller afghanischer Kleidung, einem langen weißen Gewand und einem Turban
Wie dieser Mann (2.v.l.) hat auch Mustafa jahrelang als Übersetzer für die Bundeswehr gearbeitetBild: Maurizio Gambarini/dpa/picture alliance

Mustafa hat von 2010 bis 2015 als Dolmetscher für die Bundeswehr gearbeitet. Er steht auf der offiziellen Ausreiseliste der deutschen Behörden. Seitdem die Taliban im vergangen August die Macht in Afghanistan wieder übernommen haben, kann er sich nicht mehr sicher fühlen. Aus Sicht der Taliban ist er ein Verräter, ein Kollaborateur.

Mehrere tausend Menschen warten verzweifelt darauf, nach Deutschland ausreisen zu können - in die Sicherheit. Es sind vor allem sogenannte Ortskräfte, aber auch bedrohte Journalistinnen und Journalisten und andere, die sich für Demokratie und Menschenrechte eingesetzt haben. Von Ortskräften spricht man, weil sie nicht - wie viele Deutsche -, entsandt wurden, sondern vor Ort lebten. Sie wurden viel schlechter bezahlt als die Entsandten, die rechtzeitig evakuiert wurden.

Morde der Taliban

Die radikalislamischen Taliban hatten im Sommer 2021 die Macht in dem Land am Hindukusch nach rund zwei Jahrzehnten zurückerobert. Die USA, die NATO und viele westliche Hilfsorganisationen verließen panikartig Afghanistan. Auch die deutsche Bundeswehr, die sich fast 20 Jahre mit Soldaten und Milliardensummen in Afghanistan engagiert hatte, zog die letzten Kräfte ab.

Berlin: Afghanin kämpft für ihre Familie

Zurück blieben tausende afghanische Ortskräfte und ihre Familien, die deutsche Institutionen zum Teil jahrelang bei ihrer Arbeit unterstützt hatten. Sie waren es, die Entwicklungshelfern oder Soldaten durch Übersetzen assistierten, die in Passstellen bei Botschaften und Konsulaten oder in den Küchen und bei der Logistik halfen.

Sie waren es auch, die man offenbar schnell vergessen hatte, als die Entsandten das Land verlassen hatten. Seitdem leben sie in Angst davor, von den Taliban aufgespürt und bestraft zu werden. Immer wieder hatten diese Exempel an den "Verrätern" verübt. Hunderte Morde an ehemaligen Ortskräften durch die Taliban haben die Vereinten Nationen bereits dokumentiert.

Warten auf die Evakuierung

Die Oppositionspartei Die Linke wollte die genauen Zahlen in Erfahrung bringen und erhielt dieser Tage Antwort von der Bundesregierung, die erst Monate nach dem Abzug ins Amt kam: Eine Zusage zur Aufnahme gebe es für 33.263 Menschen aus Afghanistan. Fast 12.000 Afghaninnen und Afghanen, die eine Aufnahmezusage aus Deutschland haben, warten noch auf ihre Evakuierung.

Junger afghanischer Mann mit Vollbart und pomadierter Scheitelfrisur schaut in die Kamera
Qais Nekzai vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte war selbst lange Übersetzer für die BundeswehrBild: Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V.

"Ich bin auch von der neuen Regierung enttäuscht", sagt Qais Nekzai. "Bei dem Verfahren für die Ortskräfte der Bundeswehr hat sich nichts verändert." Nekzai engagiert sich im Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte. Er hatte selbst bis 2014 für die Bundeswehr in Afghanistan als Übersetzer und Dolmetscher gearbeitet und ist dann nach Deutschland geflüchtet.

Das Netzwerk setzt sich vor allem für ehemalige Helfer der Bundeswehr ein. Ständig bekomme er verzweifelte Anrufe von Menschen aus Afghanistan, die auf den Anerkennungslisten der deutschen Behörden stünden, aber nicht rauskämen, berichtet Nekzai: "Viele haben einfach nicht das Geld für ein Visum oder einen Reisepass, ohne den sie das Land aber nicht verlassen können." Ein Reisepass koste in Afghanistan rund 700 US-Dollar. Geld, das viele Menschen nicht aufbringen können.

Eine Hand hält einen afghanischen Reisepass mit goldener Schrift
Ticket in die Freiheit und Sicherheit - der afghanische ReisepassBild: Jorge Silva/Reuters

Bei den Pässen hatte Mustafa mittlerweile Glück. Das Patenschaftsnetzwerk hat mit Spendengeldern für ihn und seine Familie Pässe finanziert. Vor zwei Wochen hat er einen Anruf von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Entwicklungszusammenarbeit (GIZ) bekommen. Die Organisation hilft den Ausreisewilligen im Auftrag der deutschen Regierung. Aber auch die GIZ habe ihn wieder vertröstet. "Ich bin enttäuscht von der Regierung in Deutschland", sagt Mustafa. "Seit dem 16. Dezember 2021 habe ich die Zusage, dass ich ausreisen kann. Aber passiert ist nichts. Wir sitzen weiter in Kabul fest."

Bestandsaufnahme der deutschen Regierung

Die Regierung aus SPD, Grünen und FDP bestreit die Probleme nicht. Ende Juni sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei einer Pressekonferenz, immerhin sei rund zwei Drittel derjenigen, die eine Aufnahmezusage für Deutschland erhalten hätten, inzwischen auch die Einreise ermöglicht worden. "Aber gleichzeitig warten zu viele Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusage oder solche, die wieder mit ihren Familien zusammen sein möchten, noch immer auf ihre Ausreise", räumte die Ministerin ein.

Porträt der Außenministerin Annalena Baerbock, sie spricht mit halb geöffneten Mund
Von "Licht und Schatten" beim "Aktionsplan Afghanistan" sprach Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Grüne)Bild: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

In einer Bestandsaufnahme "Sechs Monate Aktionsplan Afghanistan" des Auswärtigen Amtes kommen die Experten zu dem Schluss, dass bislang nicht alles gut gelaufen sei. "Dies gilt vor allem für die Menschen, die auf der sogenannten Menschenrechtsliste stehen und somit besonders schutzbedürftig sind. Hier ist bislang nur der Hälfte der Menschen die Ausreise aus Afghanistan gelungen", heißt es im Außenamtsbericht.

Gelobt wird die enge Zusammenarbeit mit Pakistan, einem Nachbarland Afghanistans. Rund 12.000 Betroffene hätten seit Jahresbeginn von Pakistan aus nach Deutschland ausreisen können - darunter auch viele Menschen, die nur einen Personalausweis und keinen Reisepass vorweisen konnten.

Männer in traditionell weiten afghanischen Gewändern, viele mit Kopfbedeckung vor einem gesicherten Grenzübergangsgebäude. Im Vordergrund ist ein Wachsoldat mit einem Gewehr und Schutzweste erkennbar
Flucht nach Pakistan - immer Menschen versuchen, über die afghanisch-pakistanische Grenze in Sicherheit zu kommenBild: Ahmad Kamal/Xinhua News Agency/picture alliance

Möglich geworden sei das durch "Sonderabsprachen" mit der pakistanischen Regierung. Geholfen hat wohl auch ein finanzieller Zuschuss von 32 Millionen Euro an das Land.

Verzweifelter Appell

Auch Verwandte und Freunde von Mustafa konnten über Pakistan nach Deutschland ausreisen. Doch er sitzt weiter fest und will nur eines: Raus!

"Helfen sie mir und meiner Familie", hat Mustafa noch vor kurzem an die zuständigen deutschen Behörden geschrieben. Eine Antwort auf seine Email hat er noch nicht erhalten.

Volker Witting
Volker Witting Politischer Korrespondent für DW-TV und Online