Wie eine Frau Afghanistan verändern wollte
2. September 2021Vor drei Jahrzehnten musste sie Afghanistan verlassen - damals geriet das Land nach dem Zerfall der Sowjetunion in einen Bürgerkrieg. Mozhdah Jamalzadah flüchtete mit ihrer Familie zunächst nach Pakistan, dann nach Kanada.
Nachdem sie jahrelang die Berichterstattung über ihr Geburtsland verfolgt hatte, entschied Jamalzadah zunächst, Journalistin zu werden. Diesen Traum gab sie jedoch auf, als sie bemerkte, dass eine Laufbahn als Musikerin ihr erlauben würde, ihre politischen Botschaften noch schneller und effektiver zu verbreiten. Heute lebt die Sängerin in Vancouver, an der Westküste Kanadas. Mit der DW spricht sie über ihren Aufstieg zum afghanischen Popstar, ihre Karriere als Fernsehmoderatorin in Afghanistan und wie ihr die Rückeroberung Kabuls durch die Taliban das Herz gebrochen hat.
DW: Warum haben Sie begonnen, Musik über die politische Lage von Frauen zu machen?
Mozdah Jamalzadah: Ich fing mit dem Musikmachen an, weil ich meine Stimme erheben wollte, um die Menschen in Afghanistan darauf hinzuweisen, dass Frauen ein wichtiger Teil der Gesellschaft sind - schon immer waren. Nur so konnte Afghanistan gedeihen. Als die Taliban an der Macht waren, begannen Männer, ihre Frauen und Familien einzuschränken. Mein erstes Musikvideo [zum Lied "Sher bacha"] war sehr provokativ: Ich habe getanzt und trug ein ärmelloses Oberteil. Außerdem trug ich einen Schlips und Zylinder. Mein Vater schrieb den nächsten Song, "Dukhtare Afghan" (deutsch: Tochter Afghanistans), der an afghanische Mädchen und Frauen gerichtet war. Sein Liedtext war wunderschön - es war das erste afghanische Protestlied für Frauen in der Geschichte. Eine Zeile lautete: "don't break my wings, don't break my honor. I'm a proud Afghan girl" (deutsch: "Brich mir nicht die Flügel, brich nicht meine Ehre. Ich bin ein stolzes afghanisches Mädchen").
Ihr Vater scheint ein sehr fortschrittlicher Mann zu sein. Ist das so?
Er ist ein Feminist und hat großen Einfluss auf mich ausgeübt. Vielleicht ist das erblich, vielleicht liegt es mir im Blut. Aber ich weiß, dass ich Feministin bin, weil ich mit ihm als Vater aufgewachsen bin, weil er solche Dinge sagt wie, wir sind im 21. Jahrhundert, Frauenrechte sollten kein Thema mehr sein. Es ist so traurig zu sehen, dass die Welt sich so sehr zurückgedreht hat, er ist erschrocken darüber, er versteht das alles nicht.
Wie war es, als Sie nach Afghanistan zurückgekehrt sind?
Ich kehrte Ende des Jahres 2009 nach Kabul zurück, da war es dort gerade sehr gut. Der erste Song machte mich schon ein klein wenig bekannt. Beim zweiten Song war ich von den Reaktionen allerdings komplett überrascht: Es war ein politisches Lied, und ich war schockiert und überrascht davon, dass so viele Afghanen und Afghaninnen ihn so sehr liebten und mich so sehr unterstützten.
Daraufhin bekam ich ein Angebot, im Fernsehen aufzutreten. Es handelte sich um einen neuen Fernsehsender, der gerade erst in Kabul gegründet worden war. Die riefen mich an und baten mich, als Moderatorin für sie zu arbeiten.
Wir fingen in unserer Sendung mit dem Thema Kindesmissbrauch an, erklärten, was passieren würde, wenn man mit seinen Kindern spricht statt sie zu schlagen … 90 Prozent aller Kinder in Afghanistan werden Opfer von Gewalt oder Missbrauch, das ist so traurig.
Wie wurde die Sendung angenommen?
Sie wurde sehr beliebt, praktisch über Nacht. Wir boten eine gute Mischung, es war geradezu magisch. Stück für Stück wendete ich mich dem Thema häusliche Gewalt zu. Manchmal führte das zu Anspannungen. Aber es gab Menschen im Publikum, die standen auf und sprachen direkt in die Kamera. Eine Frau stand auf und sagte: "Seht mich an. Ich bin verheiratet worden, als ich zwölf oder 13 Jahre alt war. Ich habe zehn Kinder. Schaut mich heute an. Ich bin noch jung, aber ich sehe viel älter aus."
Vor jeder Sendung standen 250 Menschen an, um zuzusehen. Wir hatten kaum genug Platz, um sie alle unterzubringen.
Ihnen wurden aber auch viele Drohungen geschickt.
Oh ja, wir bekamen regelmäßig Drohschriften. Am Anfang hatte ich noch Angst, weil man uns ständig anrief und damit drohte, den TV-Sender in die Luft zu sprengen. Es wurde besonders schlimm, als ich anfing, über häusliche Gewalt und andere Tabuthemen zu sprechen. Manche Leute sagten mir, ich müsse da ein bisschen vorsichtiger sein, mich ein bisschen beunruhigen. "Du gehst zu weit", sagten sie, "du forderst das Schicksal heraus."
Hatten Sie damals den Eindruck, dass Frauen mehr Rechte bekamen oder dass die Situation in Afghanistan sich insgesamt für sie verbesserte?
Ja, auf jeden Fall. Nehmen wir einfach die Sendung als Beispiel: Die Leiterin war eine 19-jährige junge Frau. Und da waren überall Männer, die Anweisungen von ihr entgegennahmen und sich daran hielten, Männer jeden Alters. Es gab sehr hohe Positionen, die von Frauen ausgeübt wurden, in der Regierung, in der Wirtschaft, und viel mehr Mädchen gingen zur Schule als noch ein paar Jahre zuvor ...
Warum haben Sie 2012 Afghanistan wieder verlassen?
Ich wurde dazu gezwungen. Es gab noch eine Todesdrohung, aber dieses Mal eine, die mir wirklich Angst machte, die ich ernst nehmen musste. Ich war gerade zuhause [in Kanada], um meine Familie zu besuchen, eigentlich nur für zwei Wochen. Mein Vater war Zuhause [in Afghanistan] mit der NATO und rief meine Mutter von dort aus an, er habe ein schlimmes Gerücht darüber gehört, dass ich tot sei.
Mein Chef zu diesem Zeitpunkt, der Besitzer des TV-Senders, fragte mich per E-Mail, wo ich gerade sei. Ich antwortete: "Ich habe euch doch gesagt, dass ich meine Familie in Kanada besuchen gehe." Und mein Chef antwortete: "Unsere Nachrichtenredaktion hat gerade einen Anruf bekommen. Da wurde behauptet, deine Leiche liege in einem Krankenhaus." Es gab Gerüchte, dass man mir die Ohren und die Nase abgeschnitten hätte, mich geköpft, mich erschossen hätte. Und, dass man mich vergewaltigt hätte. Es war schrecklich.
Trotzdem bin ich zurückgefahren.
Was?
Ach, Gott, ich weiß auch nicht. Vielleicht war ich damals einfach jünger und wusste noch nicht so richtig, wie groß die Gefahr wirklich war. Die Leute von der kanadischen Botschaft warnten mich bloß, dass sie mich nicht würden beschützen können. Sie sagten, regle deine Sachen und dann komm zurück. Also kehrte ich endgültig nach Kanada zurück. Damit war es auch mit meiner Sendung vorbei. Man sagte mir zwar, wenn sich alles ein bisschen beruhigt hat, kannst du zurück nach Kabul. Aber als es so weit war, hatte sich bei mir schon vieles geändert: Ich hatte angefangen, Konzerte zu geben, sang immer noch meine Lieder, und es wäre schwierig gewesen, das alles aufzugeben.
Mit dem Singen haben Sie dann also wieder angefangen?
Ja, das hat nicht lange gedauert. Ich begann wieder zu singen und reiste alle paar Monate nach Afghanistan. Ich war immer noch oft dort, für Konzerte oder Auftritte und Sendungen im Fernsehen.
Und dann kam Social Media. Ich bemerkte, wie viel Macht Social Media einem geben kann. Dort konnte ich meine Meinung sagen. Und es kamen so viele Follower, auch aus Afghanistan. Hunderttausende schauten sich meine Videos auf Youtube oder Facebook an.
Ich veröffentlichte zum Beispiel Fotos, in denen ich einen kurzen Rock trug. Der Backlash war enorm. So ein Foto war meine Art von Protest. Langsam beruhigten sich die Leute. Wenn ich heute ein Foto veröffentliche, in dem ich ein Bikinioberteil trage, reagieren die Leute darauf nicht mehr so heftig wie früher, obwohl ich damals bloß einen Rock trug, der sogar übers Knie ging.
Daran sieht man, dass sich die Dinge eben doch geändert haben. Die Menschen in Afghanistan haben ihre Meinung geändert. Aber was mir gerade richtig Angst macht, mehr Angst als alles andere, ist, dass all diese Mühe, all dieser Fortschritt, der bei Frauenrechten erzielt wurde – von der internationalen Staatengemeinschaft und den Afghanen selber – jetzt wieder rückgängig gemacht wird. Die Taliban werden mit ihrem Einfluss auf die Menschen alles wieder auf Null setzen. Ich hoffe natürlich, dass es dieses Mal anders kommt. Aber es ist sehr schwierig, hoffnungsvoll zu sein.
Das Gespräch führte Manasi Gopalakrishnan.
Übersetzung aus dem Englischen: Christine Lehnen