Das Sammelbecken der Frustrierten
6. September 2016Mit Mecklenburg-Vorpommern geht es schon seit mehreren Jahren aufwärts: Die Arbeitslosigkeit nimmt ab, die Abwanderung ist gestoppt, das schöne Land hat sich zum Touristenmagnet entwickelt, selbst der Anteil der Flüchtlinge ist hier besonders gering. Und doch hat jeder fünfte die Alternative für Deutschland, AfD gewählt. Rechnet man die rechtsextreme NPD dazu, dann wählte sogar fast jeder vierte rechts oder rechtsextrem.
Dass die Flüchtlingspolitik der schwarzroten Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel der vielleicht entscheidende Grund war, steht außer Frage. Dabei hatte Merkel im Frühjahr gesagt, mit sinkenden Flüchtlingszahlen werde auch die AfD wieder kleiner. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Zustimmung zur AfD ist sogar noch gewachsen, obwohl deutlich weniger Menschen nach Deutschland kommen als bis Anfang des Jahres. Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte sagte dazu im ZDF: "Offenbar bleibt der Protest zur Grenzöffnung unabhängig davon, ob viele Flüchtlinge kommen oder nicht."
Die Persönlichkeit zählt
Den Dresdner Politologen Prof. Werner Patzelt wundert das nicht. Der Deutschen Welle sagte er, die Flüchtlingspolitik sei nicht die Ursache, sondern nur "der Auslöser für den Durchbruch des Rechtspopulismus in Deutschland". Das Phänomen sieht er breiter. Die AfD sei inzwischen zum Sammelbecken all jener geworden, die sich von "einem Elitenkartell aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Grünen" regiert fühlten, "gegen das kein Kraut gewachsen sei".
Zu den Befürwortern von Merkels Flüchtlingspolitik gehörte bis vor kurzem die SPD, die sowohl im Bund als auch im Schweriner Landtag in einer großen Koalition mit der CDU regiert. Die SPD hat sogar auf Bundesebene asylverschärfende Maßnahmen zu blockieren oder aufzuweichen versucht. Trotzdem blieb die SPD in Mecklenburg-Vorpommern stärkste Partei. Den Grund sehen Beobachter vor allem in der Persönlichkeit von Ministerpräsident Erwin Sellering. Ähnlich wie bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz im März, wo die SPD-Regierungschefin Malu Dreyer im Amt blieb oder in Baden-Württemberg, wo mit Winfried Kretschmann erstmals ein Grünenpolitiker die Regierungskanzlei eines Bundeslandes eroberte, sorgte auch in Schwerin ein einzelner populärer Spitzenpolitiker für den Wahlsieg seiner jeweiligen Partei. Im Unterschied zu Kretschmann und Dreyer ging Sellering allerdings deutlich auf Distanz zu Merkels Migrationspolitik.
Stur weitermachen oder Kurskorrektur?
Doch wie können die Bundesparteien jetzt mit dem Ergebnis umgehen? Merkel selbst hat sich vom G20-Gipfel in China aus als "natürlich auch verantwortlich" gezeigt und eingeräumt, "natürlich" habe das Ergebnis mit der Flüchtlingspolitik zu tun. Ändern will sie diese aber nicht, weil sie sie für richtig hält.
Zwei Tageszeitungen zeigen an diesem Montag in Kommentaren zwei entgegengesetzte Lösungswege auf. Die "Saarbrücker Zeitung" rät der Regierung, sich nicht beirren zu lassen: "Man muss so ein Wahlergebnis nicht verstehen. Man muss den Rechts-Wählern vielmehr klar widersprechen, man muss ihnen viel deutlicher sagen, dass es keinen Grund für eine 'Protestwahl' dieser beschämenden Art gibt." Dagegen fordert die "Nordwest-Zeitung" in Oldenburg einen Kurswechsel: "Die CDU verweigert sich der Erkenntnis, dass der Aufstieg der AfD selbstverschuldetes Elend ist. Unter Merkel hat es einen beispiellosen Linksruck gegeben." Die AfD werde bleiben - "solange, bis die Union ernsthaft ihren Kurs korrigiert."
Doch der Politikwissenschaftler Werner Patzelt meint, selbst wenn die CDU dazu bereit wäre, würde das nichts bringen: "Die Kanzlerin und ihre Partei sitzen in einer Falle." Die "klammheimliche" Abwendung von der Willkommenskultur habe der Regierung nichts genutzt, und es "wäre ganz unglaubwürdig, jetzt einen Kurswechsel erklären zu wollen". Auch die SPD würde davon nicht profitieren, "weil die Bevölkerung die Einwanderungspolitik ganz wesentlich der SPD und den Grünen als von ihnen gewünschtes Politikprojekt zuschreibt."
Die Kandidatenfrage
Eine andere Frage ist, ob Angela Merkel jetzt noch Kanzlerkandidatin der Union für die Bundestagswahl in einem Jahr werden kann. Der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte spricht von einem "Kandidatentest", ohne zu sagen, ob Merkel ihn damit verloren habe. Sie selbst hat erneut offengelassen, ob sie noch einmal antreten würde. Der stellvertretende SPD-Chef Ralf Stegner sieht das Schweriner Wahlergebnis als "schwere persönliche Niederlage für die Kanzlerin", ohne allerdings zu sagen, ob Merkel die Konsequenz ziehen soll. Dagegen rät der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach in der Zeitung "Die Welt" von Spekulationen über die Kanzlerkandidatur ab: "In dieser schwierigen Situation eine Personaldebatte in der Union zu beginnen, würde mehr Probleme schaffen als lösen."
Werner Patzelt glaubt, der CDU bleibe kaum etwas anderes übrig, als Merkel - wenn sie selbst es will - wieder ins Rennen zu schicken, da "ihre Popularität immer noch klar höher liegt als die ihrer Partei und es innerhalb der Union keine wirkliche Alternative gibt".
Der nächste Wahltest kommt schon in knapp zwei Wochen, dann ist Berlin dran, und Umfragen deuten darauf hin, dass das nächste Desaster für die CDU und der nächste Triumph für die AfD ansteht.