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Alzheimer: EMA lehnt Zulassung von Aducanumab ab

22. Dezember 2021

In den USA ist Aducanumab zugelassen, doch in der EU sperrt sich die Zulassungsbehörde. Das Medikament soll die Alzheimer-typischen Amyloid-Beta-Plaques im Gehirn bekämpfen. Aber bremst es auch den Gedächtnisverlust?

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Eine betagte Dame spielt das "Memory"-Kartenspiel
Um gegen Alzheimer erfolgreich vorzugehen, muss die Krankheits-Kaskade frühzeitig unterbrochen werden. Bild: picture-alliance/dpa

Große Hoffnungen der Alzheimer-Forschung lagen in diesem Jahr auf dem Medikament Aducanumab bzw. Aduhelm. Die US-Zulassungsbehörde FDA hatte das Medikament am 7. Juni zugelassen. Doch am Freitag (17. Dezember 2021) schüttete die  Europäische Medikamentenagentur EMA  Wasser in den Wein: Die vorgelegten Studien hätten eine klinische Wirkung nicht eindeutig belegen können. Die US Herstellerfirma Biogen hat seitdem zwei Wochen Zeit, um Widerspruch gegen die Ablehnung einzureichen.

Andreas Schmitt, Professor und medizinischer Direktor bei Biogen teilte der Deutschen Welle mit, dass seine Firma das tun werde: "Im Rahmen der erneuten Prüfung werden wir uns intensiv bemühen, die offenen Fragen [des Fachausschusses der EMA] zu klären, mit dem Ziel, Patienten in Europa Zugang zu Aducanumab zu ermöglichen," schrieb Schmitt. "Die Ablagerung von Amyloid-Beta-Plaques ist eines der wichtigsten pathologischen Merkmale der Alzheimer-Krankheit. Aus unseren klinischen Studien wissen wir, dass Aducanumab die Amyloid-[Beta-]Plaques [kurz A-Beta genannt] im Gehirn reduziert und so den kognitiven Zerfall verlangsamen könnte."

Die FDA teilte in diesem Sommer diese Einschätzung. Doch in der Wissenschaft wird weiter debattiert: Reicht das auch aus, um den Gedächtnisverfall zu stoppen? 

Ein Dilemma - denn eigentlich müssten Patienten das Medikament schon einnehmen, lange bevor sie erste Demenz-Symptome zeigen.  

Ein Blick auf die Gesunden, nicht auf die Kranken

Die Erfinder des Wirkstoffes kommen von der Universität Zürich. Roger Nitsch  und Christoph Hock haben sich nicht in erster Linie Alzheimer-Kranke angeschaut, sondern gesunde und fitte Menschen in hohem Alter. Bei ihnen haben sie gezielt nach Immunzellen gesucht, die in der Lage sind, Antikörper gegen A-Beta zu bilden. Und sie wurden fündig.

In mühsamer Kleinarbeit haben sie die Antikörper entschlüsselt und im Labor nachgebaut. Gemeinsam mit Biogen brachten sie dann den Wirkstoff in die klinische Erprobung.

Wie ein Wasserfall

Die Alzheimer-Forschung ist sich mittlerweile weitgehend einig darin, dass die Alzheimer-Krankheit in Form einer sehr lang anhaltenden Kaskade abläuft, in der verschiedene Verfallsprozesse der Gehirnzellen aufeinander folgen. Zentral dabei ist die Bildung der A-Beta-Plaques.  Dieses Protein kommt in allen Menschen als Monomer (einfaches Molekül) vor. Verbindet es sich aber zu Oligomeren (einer Vorstufe der Plaques), wird es schädlich. Als nächstes folgt die Aktivierung der zellulären Immunabwehr und die spätere Bildung von weiteren Ablagerungen, den Tau-Plaques. Diese entstehen, wenn sich stabilisierende Tau-Proteine aus dem Zytoskelett der Nervenwurzeln lösen und zwischen den Nervenzellen ablagern. Dann werden sie wahrscheinlich ebenfalls toxisch. 

In der Kaskade sehen Forschende auch das größte Problem: Nur wenn es gelingt, diese frühzeitig zu bekämpfen, lässt sich der Gedächtnisverlust möglicherweise nachhaltig stoppen.

Christian Haas, Professor für molekulare Neurodegeneration am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)  in München, vergleicht im Gespräch mit der Deutschen Welle das Fortschreiten der Krankheit mit Wasserfällen: "Wenn wir oben das Wasser abdrehen wollen, müssen wir das beim Amyloid direkt tun. Wenn wir zu spät reingehen, haben wir das Amyloid schon überschritten und plötzlich kann das Tau-Protein allein den Wasserfall weiterbetreiben." 

Infografik Die Alzheimer Demenz als Krankheits-Kaskade DE

Der Erfolg einer Behandlung hängt also davon ab, wie früh Mediziner die Krankheit erkennen und ob es ihnen gelingt, mit dem richtigen Wirkstoff einzugreifen. Das Problem dabei: Alzheimer verläuft anfangs lange unbemerkt, und wenn der Gedächtnisverlust bereits offensichtlich wird, ist es bereits zu spät. Dieses Problem spiegelte sich auch in den klinischen Studien zu Aducanumab wider.

Rauf und runter in den klinischen Studien

Drei klinische Studien, namens Prime,  Emerge,  und  Engange  hatte Biogen durchgeführt, bevor die Firma den Wirkstoff 2019 bei der FDA und 2020 bei der EMA zur Zulassung eingereicht hatte. Die Bewertung der Studienergebnisse durch die Forschenden änderten sich immer wieder. Es war wie eine Achterbahnfahrt. 

In der Prime-Studie hatte Aducanumab 2016 die A-Beta-Plaques bei 166 Alzheimer-Patienten erfolgreich bekämpft. Bei den darauffolgenden Emerge- und Engage-Studien mit insgesamt 3200 Probanden kam es dann aber zu widersprüchlichen Bewertungen der Ergebnisse. Im März 2019 wurden beide Studien gestoppt, weil die Zwischenergebnisse bei den Testpersonen keine kognitiven Verbesserungen zeigten. "Und das ist ja am Ende das Einzige, was wirklich zählt", meint Christian Haas.

Doch im Oktober 2019 änderten die Forschenden ihre Einschätzung: Bei Patienten der Emerge-Studie habe es nachweislich eine positive Wirkung bei der Gedächtnisleistung gegeben. Biogen beantragte daraufhin die Zulassung bei der FDA. Doch schon kurz darauf bescheinigte ein unabhängiges Expertengremium im Auftrag der FDA dem Medikament wiederum nur einen geringen Nutzen. Es widersprach damit einer ersten Einschätzung der FDA. Daraufhin verlängerte die FDA den Review-Prozess für das Medikament bis Juni 2021. 

Viel hilft viel – oder schadet es auch?

Die unterschiedlichen Bewertungen der Wirksamkeit von Aducanumab hatten offensichtlich auch etwas mit der Dosierung des Medikaments zu tun, welche die Probanden in den verschiedenen Studien erhalten hatten. Den stärksten Effekt konnten die Mediziner bei den Probanden feststellen, die eine besonders hohe Dosierung bekommen hatten. Bei ihnen schien sich der Abbau der kognitiven Leistung zu verlangsamen.

Porträt einer Alzheimer-Patientin

Dabei gibt es allerdings ein Problem mit hohen Dosierungen: Insbesondere bei Menschen mit einer bestimmten genetischen Veranlagung namens APOE4  kann Aducanumab zu Gehirnschwellungen führen. Patienten, die solche Veränderungen gezeigt haben, sind jedoch sofort aus der Studie herausgenommen worden. "Diese Veränderungen scheinen sich auch wieder zurückzubilden," berichtet Haas. Voraussetzung: Sie werden richtig erkannt. 

Interessanterweise spricht Aducanumab besonders gut ausgerechnet bei den Patienten an, die die APOE4-Veranlagung haben. "Da scheint es einen Zusammenhang zu geben. Es ist aber unklar, wieso," sagt Haas.

Auf keinen Fall sei das ein Grund, das Medikament zu verwerfen, meint der Münchener Alzheimer-Forscher: "Aducanumab ist immerhin eines der Medikamente, das es schafft, die grundlegende Pathologie im Gehirn von Patienten praktisch völlig abzuräumen." Das könne man sehr gut mit bildgebenden Verfahren nachweisen. "Das ist eine ziemlich fantastische Geschichte: Je mehr man von diesem Antikörper gibt, desto mehr kann von dieser Pathologie abgebaut werden." Nun gelte es, diese Zusammenhänge weiter zu erforschen.

Je früher, desto besser

Bei Alzheimer gilt es, die neurodegenerative Kaskade so früh wie möglich zu unterbrechen. "In allen klinischen Trials ist man viel zu spät reingegangen," meint Haas. Die Pathologie von Alzheimer beginne oft schon zehn bis zwanzig Jahre, bevor Mediziner irgendetwas bemerken. "Und wenn die Tau-Proteine schon da sind, kann eine Amyloid-basierte Therapie nicht mehr funktionieren."

Aber auch kleine Fortschritte seien bei der Alzheimer-Behandlung schon ein riesiger Erfolg. "Es wäre ja wunderschön, wenn wir einen Patienten auf dem mentalen Status stabilisieren könnten, mit dem er bei uns in die Klinik reinläuft." 

Zu Beginn einer Behandlung seien viele Betroffene durchaus noch selbstständig unterwegs. "Die kommen oft noch mit dem Auto oder den öffentlichen Verkehrsmitteln", sagt Haas. "Sie sind für ein normales Leben noch völlig geeignet und können es auch selbstständig durchführen."

Abschied auf Raten: Ein Leben mit Demenz

Also gilt es in Zukunft, mit einer medikamentösen Behandlung bereits zu beginnen, wenn die Patienten vom Gedächtnis her völlig normal sind. Daher suchen Mediziner intensiv nach Biomarkern,  um die Früherkennung zu verbessern. Doch bisher ist nicht klar, ob das am Ende reichen wird, um mit A-Beta-Antikörpern wie Aducanumab noch rechtzeitig eingreifen zu können.

Mikrogliazellen – die Müllabfuhr im Gehirn aktivieren

Wenn es um die Bekämpfung und Beseitigung von Plaques im Gehirn geht, spielt auch die zelluläre Müllabfuhr eine wichtige Rolle. Diese setzt bei Alzheimer-Patienten schon recht früh ein – wahrscheinlich als Reaktion auf die Bildung der ersten A-Beta-Plaques. Diese Immunabwehr gilt zwar einerseits als Teil des Problems, Forschende wollen sie sich aber auch bei der Bekämpfung von Alzheimer zu Nutze machen.

Die dafür zuständigen Mikrogliazellen sind dabei einzigartig: Diese Immunzellen dienen einerseits als Fresszellen und gleichzeitig als Vorläuferzellen für Nervenzellen. 

Werden sie überaktiviert, können sie gefährliche Entzündungsreaktionen  – Autoimmunreaktionen – auslösen, die bei Alzheimerpatienten im fortgeschrittenen Stadium nachweisbar sind. 

Andererseits kann es auch vorkommen, dass die Mikroglia inaktiv bleiben, obwohl sie dringend gebraucht würden, um gegen die Plaque-Bildung vorzugehen. Derzeit entwickelt Haas mit der US-Firma Denali  einen entsprechenden Antikörper für erste klinische Versuche am Menschen. Die Idee: Die Mikrogliazellen sollen frühzeitig darauf vorbereitet werden, die Plaques zu erkennen und zu bekämpfen. 

Die könnten, falls es doch noch zu einer Zulassung kommt, auch gemeinsam mit Aducanumab zum Einsatz kommen. Etwa so: "Aducanumab setzt sich auf die Plaques drauf. Die Plaques werden besser erkannt von den durch unseren Antikörper geboosteten Mikroglia-Zellen, und die beginnen die Plaques frühzeitig abzufressen. Aber das müssen wir jetzt alles erstmal probieren." 

Dieser Artikel wurde zuletzt am 22. Dezember 2021 aktualisiert, um der Ablehnung der Zulassung des Wirkstoffes durch die EMA Rechnung zu tragen. 

Schmidt Fabian Kommentarbild App
Fabian Schmidt Wissenschaftsredakteur mit Blick auf Technik und Erfindungen