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Politik

60 Jahre Mali - und eine ungewisse Zukunft

Martina Schwikowski
22. September 2020

Malis Unabhängigkeit jährt sich in unruhigen Zeiten: Nach dem jüngsten Putsch ist die Machtfolge noch nicht geklärt. Experten sehen darin die Fortsetzung von Problemen, die so alt sind wie Mali selbst.

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Mali I Protest in Bamako
Nach dem Putsch feierten Anhänger des Nationalkomitees CNSP auf dem Unabhängigkeitsplatz in BamakoBild: Getty Images/AFP/M. Konate

Selten dürfte ein 60. Jahrestag der Unabhängigkeit so ungelegen kommen wie in Mali: Nach dem Putsch vor einem Monat scheint der Sahelstaat von politischer Stabilität immer noch weit entfernt. "Man wird sich entscheiden müssen, ob Reformen umgesetzt werden können", sagt Christian Klatt, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung - die politische Stiftung der deutschen Sozialdemokraten - in Malis Hauptstadt Bamako. Malis Geschichte seit der Unabhängigkeit sei durch vier illegitime Regierungswechsel geformt, betont Klatt im DW-Interview. Viele Faktoren spielten mit, warum das Sahel-Land ständig in Probleme gerate.

Das Problem: Willkürliche Grenzen

Den Hauptgrund sehen Experten in der Kolonialisierung Malis: Die Schwierigkeiten, mit denen das Land zu kämpfen habe, sind für den malischen Historiker Doulaye Konaté das Ergebnis der Art und Weise, wie die früheren Gebiete abgegrenzt worden sind. "Vergessen wir nicht, dass die Staaten Afrikas auf Grenzlinien aufbauen, die während der Kolonialzeit gezogen wurden. Diese Linien haben manchmal Gemeinschaften zwischen mehreren Ländern gespalten - das schafft all diese Probleme", sagt Konaté im DW-Interview.

Bildergalerie | Mali | 60 Jahre Unabhängigkeit
Malis erster Staatschef Modibo Keita und Frankreichs Premier Michel Debre besiegelten 1960 die Unabhängigkeit der Mali-FöderationBild: Getty Images/AFP

Die Staatsgründung Ende des 19. Jahrhunderts als Territorium Frankreichs hatte weder sprachliche, ethnische noch religiöse Grenzen berücksichtigt. Mali wurde Teil der Kolonie Französisch-Sudan. 1960 erlangte die Mali-Föderation, zu der kurzzeitig auch der benachbarte Senegal gehörte, ihre Unabhängigkeit. Kurz danach zerbrach die Föderation, seit dem 22. September 1960 besteht die Republik Mali in ihren heutigen Grenzen. Nach langer marxistisch-orientierten Einparteienherrschaft folgte auf einen Militärputsch 1991 ein nationaler Dialog: Mit einer neuen Verfassung öffnete Mali sich zu einem demokratischen Mehrparteienstaat.

Integration von Volksgruppen

Für Konaté bedeutet die "Balkanisierung” der zusammenhängenden Flächen und Kulturen nach der Unabhängigkeit - also den Zerfall eines komplexen Kulturraums in unhomogene Einzelteile - eine Misere: "Dieses geteilte Afrika, das auf dem Weg zur Unabhängigkeit war - das war schon ein Fehler", sagt er. "Dafür zahlen wir immer noch einen hohen Preis. Die afrikanischen Staaten, in denen wir jetzt tätig sind, tun sich schwer, sich in einer globalisierten Welt  durchzusetzen, in welcher Regionen zählen."

Die Integration der auseinandergerissenen und in den neuen Grenzen zusammengewürfelten Lebensgemeinschaften sei problematisch für den Aufbau eines Nationalstaates. Das betreffe nicht nur die Tuareg im Norden, sondern auch andere Ethnien im Süden des Landes.

Bildergalerie Kulturelle Gesichtsbedeckungen - Algerien
Tuareg leben nicht nur in Mali, sondern in weiten Teilen der Sahara - dieses Bild wurde in Algerien aufgenommenBild: picture-alliance/imageBroker

Ähnlich sieht es auch Politikwissenschaftler und FES-Leiter Klatt: Das Land habe nur 20 Millionen Einwohner, könne aber wegen seiner schieren Größe nicht kontrolliert werden. "Das führt zum Fehlen eines Staates in der Fläche. Wir reden von einer sehr zentralstaatlichen Ordnung mit wenig Verbindung zwischen den Problemen des Nordens und Südens und dem politischen Zentrum in der Hauptstadt Bamako", sagt Klatt im DW-Interview.

Tuareg-Massaker 1963: Ausgangspunkt für Revolten

Auch der Ethnologe Georg Klute betont diese künstliche Struktur als einen der "Geburtsfehler" des unabhängigen Mali: "Die Form der soziopolitischen Organisation ist von außen durch das Militär aufgezwungen worden: Der moderne Staat nach westlichem Modell. Die Kolonialmacht Frankreich bemühte sich, diesen Staat aufzubauen. Aber das beruhte nicht auf Konsens oder einem Abkommen mit der Bevölkerung." Daraus zieht Klute den Schluss, dass es dem Staat früh an Legitimität gefehlt habe und die malischen Bürger das "Konstrukt der Kolonialmacht" abgelehnt hätten.

FES-Leiter Klatt sagt, Auseinandersetzungen mit den im Norden lebenden Tuareg führten immer wieder zu Aufständen, die auch in der Gegenwart für Instabilität sorgten: "Die nördlichen Regionen mit einzubeziehen - das ist versucht worden. Es gibt etliche Programme zur Dezentralisierung." So habe auch der unmittelbar nach dem jüngsten Putsch gebildete Übergangsrat der politischen Militär-Führung, das Nationalkomitee CNSP, die erste Reise in den Norden unternommen, um mit den ehemaligen Separatisten-Bewegungen zu verhandeln. Allerdings lebten auch Tuareg und andere Ethnien aus dem Norden in Bamako und seien immer wieder an der Macht beteiligt gewesen: "Nur einen klaren Bruch zu den Tuareg und dem Rest des Landes zu sehen, das ist auch schwierig."

Mali Bundeswehr-Soldaten
Die Sicherheitslage in Mali bleibt trotz internationaler Militäreinsätze - hier Soldaten der Bundeswehr - angespanntBild: Getty Images/A. Koerner

Mali hat seit der Unabhängigkeit viele Revolten erlebt. Klute, der lange in Mali geforscht hat, sieht dafür einen Ursprung im Tuareg-Aufstand in der Region Kidal 1963. "Er ist damals vom malischen Militär blutig niedergeschlagen worden", sagt Klute im DW-Interview. "Diese Erlebnisse haben kollektives Trauma bewirkt. Viele Menschen sind in Nachbarländer geflohen, dazu kam in den Siebzigerjahren die große Sahel-Dürre." Laut Klute sind diese Ereignisse bis heute ein Grund, warum in der Region immer wieder Revolten ausbrechen. Seit 2012 hat sich die Sicherheitslage erneut verschlechtert - auch internationale Armeeeinsätze konnten dagegen bislang wenig ausrichten.

Mali bleibt laizistisch

Religion spielt bei der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung Malis eine wichtige Rolle. Trotzdem gibt es bisher keine Bestrebungen, Religion zum Faktor in der Politik zu machen und damit mit dem Laizismus aus Kolonialzeiten zu brechen - obwohl einer der zentralen Köpfe der M5-Protestbewegung, Imam Mahmoud Dicko, gleichzeitig ein religiöser Anführer ist. Mali stehe trotzdem nicht am Scheideweg zwischen Laizismus und religiösem Staat, glaubt FES-Leiter Christian Klatt: "Imam Dicko hat daran festgehalten, dass Mali ein laizistischer Staat ist." Dennoch habe er großen Einfluss auf die Zukunft: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Präsidentschaftskandidat ohne Zustimmung Dickos gewinnen kann", sagt Klatt.

Mali Massenkundgebung in Bamako
Imam Mahmoud Dicko ist wohl der mächtigste Geistliche im laizistischen MaliBild: Reuters/R. Byhre

Zuerst einmal muss jedoch der Streit gelöst werden, ob der Chef der Übergangsregierung aus dem Militär oder der Zivilbevölkerung kommen soll. Zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit ist noch nicht klar, wie es weitergeht in Mali.

Mitarbeit: Bob Barry