Welche Thesen schlüge Luther heute an?
28. Oktober 2017500 Jahre nach dem berühmten Anschlag der 95 Thesen am Wittenberger Kirchenportal fragen sich viele Protestanten: Über welche Themen hätte der Reformator heute so unerbittlich gestritten wie damals?
Auch wenn die Antworten reine Spekulation sind, steht doch eines fest: Luther wäre ein unbequemer Zeitgenosse mit großem politischen Einfluss, einem Millionenpublikum und vielen Ecken und Kanten.
"Tut Buße, ein Leben lang", forderte der katholische Mönch in der ersten seiner 95 Thesen. Der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann sieht darin einen Aufruf zur Abkehr von unserem bisherigen Lebensstil: "Tut Buße bedeutet kehrt um, ändert eure eingefahrenen Lebenswege, wendet euch ab von einem Leben, das billigend in Kauf nimmt, dass andere Menschen verrecken, während wir im Wohlstand leben."
"Urakt der Reformation"
Kaufmann, Autor mehrerer Bücher über Luther und die Reformation, sieht in Luther einen "Anwalt letzter Fragen". "Für Luther ist es typisch, radikale Fragen zu stellen und sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden zu geben", sagt er. "Er würde fragen: Was läuft verkehrt in einer Welt, in der genügend Lebensmittel produziert werden und dennoch Millionen Menschen hungern?"
Radikale Fragen stellen und sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengeben - diesen "Urakt der Reformation", so der EKD-Kulturbeauftragte Johannn Hinrich Claussen, befolgten heute immer mehr Menschen in den digitalen Netzwerken. Die zugespitzte Formulierung habe sich als reformatorisches Erbe in allen Medien und über alle Generationen hinweg etabliert.
Von diesem Erbe haben sich offenbar auch einige Muslime in Deutschland inspirieren lassen. So erregte der Freiburger Islamwissenschaftler und Religionspädagoge Abdel-Hakim Ourghi jüngst mit seinemAnschlag von 40 Thesen zur Reform des Islam an der Tür der Dar-Assalam-Moschee im Berliner Stadtteil Neuköln großes Aufsehen. Er fordert nichts Geringeres als eine "Reformation des Islam".
Beichten ja, Ablass nein
Luther war da weniger ambitioniert. Er prangerte zunächst nur den damaligen Ablasshandel an, der die Vergebung der Sünden gegen kleine Münze ermöglichte. "Luther wollte mit seinen Thesen nicht eine allgemeine Kirchenreform einleiten, sondern den Missbrauch eines einzigen kirchlichen Sakramentes anprangern, nämlich der Beichte", stellt Christoph Markschies, Professor für Antikes Christentum an der Humboldt-Universität in Berlin, klar. Dass die Kritik am Ablasshandel zur Kirchenspaltung geführt habe, sei eine andere Geschichte.
Für den Vatikan war Luthers Fundamentalkritik bereits Anlass genug, ihn als Ketzer mit einem Bann zu belegen. Die daraus resultierende religiöse und politische Verfolgung war für Luther damals so erschütternd, dass er Rom als Inbegriff theologischer Tyrannei und den Papst als "Anti-Christ" beschimpfte.
Glauben ohne Dogmen
Heute wäre Luther ein Vorkämpfer für Religionsfreiheit - darin sind sich viele Reformationsexperten einig. "Luther war ein Opfer der Ketzerverfolgung, er wollte religiöse Freiheit und keine starre katholische Glaubenslehre", meint der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen. Folglich würde er die Verfolgung von Christen und anderen Gläubigen anprangern. Clausssen ist überzeugt: "Luther war ein Anti-Fundamentalist. Glaube war für ihn nur in Freiheit möglich."
Wirklich? Hätte Luther die Freiheit seines jüdischen Nachbarn genauso vehement verteidigt wie die "Freiheit eines Christenmenschen", die er 1520 in einer Denkschrift forderte? Der Theologe Christoph Markschies ist sich da nicht so sicher. "Luther war ein mitteldeutscher Provinzler. Er hatte wahnsinnige Vorurteile", erläutert er. "Ich will damit nicht seine antisemitischen Ausfälle entschuldigen, sondern sie nur in einen historischen Rahmen stellen."
Noch heute kommen Luther-Forscher angesichts der Widersprüchlichkeit und der Radikalität des Reformators immer wieder an ihre Grenzen. Die politische oder religiöse Instrumentalisierung des Reformators und der Streit darüber waren deshalb auch Bestandteil des Reformationsjubiläums.
Gnade und Gewissen
Für den Theologen Christoph Markschies ist noch nicht einmal klar, ob Luther heutzutage wirklich evangelisch wäre. "Ein Protestant würde immer sagen, Luther wäre heute evangelisch und nicht katholisch. Aber das kann man natürlich nicht wissen", gibt er zu bedenken. Sicher sind sich Markschies und Claussen hingegen, dass sich Luther auch noch heute mit existenziellen Fragen wie Schuld und Sühne beschäftigen würde.
Luther als Seelsorger oder Psychotherapeut? Warum nicht? "Luther wollte Ängste religiös bewältigen. Heute würde seine Botschaft lauten: Entängstigt Euch! Mutet Euch nicht zu viel zu", meint der EKD-Kulturbeauftragte Claussen. Theologe Markschies ergänzt: "Luther würde dafür werben, sich klarzumachen, dass man von seinen Gewissensqualen ein Magengeschwür bekommen kann."
Doch Luther würde sich mit Psychotherapie allein nicht zufrieden geben, mutmaßt Markschies. "Er würde auch dafür werben, Religion als Thema wieder zu entdecken und mal wieder die Bibel zu lesen." Typisch Luther also: rebellisch und konservativ, provinziell und weltbewegend.
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