Martin Luther wird zum Kirchengründer
21. August 2017Deutschland und die evangelische Welt erlebten gerade ein Jahr lang die größten "Reformationsfestspiele" aller Zeiten. Seit dem 31. Oktober 2016 wurde ein ganzes Jahr lang wegen der umwälzenden Ereignisse, die 1517 begannen, gefeiert. An diesem 31. Oktober münden die Jubiläumsfeiern in ein großes Finale ein.
Zur Erinnerung: Der Mönch Martin Luther (1483-1546) ärgert sich über die Praxis des Ablasshandels seiner katholischen Kirche und will darüber streiten. Sich mit Geld das Seelenheil zu erkaufen, wie es Papst und Kurie propagieren, ist für Luther theologisch grundfalsch. Stattdessen gewinnt er durch sein intensives Bibelstudium eine unerschütterliche Erkenntnis: Wenn ein sündhafter Mensch an den allmächtigen und vollkommenen Gott glaubt, so ist er bereits dadurch vor Gott gerecht. Diese "Rechtfertigung" des Sünders durch Gott geschieht allein aus Gottes Gnade, nicht durch eigenes Zutun, gute Werke oder Geld. Das ist der Kern des christlichen Glaubens, so Luthers unerschütterliche Überzeugung. Der Mensch kann sich demzufolge unmittelbar (im Gebet) an seinen Schöpfer wenden, braucht dazu weder Kirche oder Priester noch Heilige als Vermittler. Der Mensch ist somit frei von jeglicher Bevormundung durch die Kirche. Damit bricht der Mönch und Theologe - zunächst in der Theorie - die Macht der katholischen Kirche.
Es geht um die Macht
Luthers Überzeugungen und Erkenntnisse lassen neue, ungeahnte Freiheit möglich erscheinen. Doch die Jahrzehnte nach dem Thesenanschlag von 1517 machen deutlich, dass die bisherige Kirche in der Praxis keineswegs gewillt ist, ihre Macht kampflos abzugeben.
Zunächst jedoch ist Luther weiter am Zug: Mit Hilfe des um 1450 von Johannes Gutenberg erfundenen Buchdrucks mit beweglichen Lettern können er und seine Mitstreiter binnen kurzer Zeit das neue Gedankengut verschriften und beliebig oft vervielfältigen. Nach dem 31. Oktober 1517, dem Ausgangspunkt der Reformation, verbreiten sich die Luther-Thesen gegen den Ablasshandel rasch im ganzen Reich.
Außerdem sorgen Vater und Sohn Cranach mit den Gemälden aus ihrer Wittenberger Werkstatt dafür, dass die Reformation ein Gesicht bekommt. Bis heute prägen ihre Bilder von Luther und seinen Gesinnungsgenossen die Menschen.
Die vom Epizentrum Wittenberg ausgehenden Wellen neuen Denkens haben weitreichende Wirkung – bis nach Rom. Thesen und Schriften werden von Papst und Kurie mit großer Sorge aufgenommen. Im Juni 1518 wird in Rom ein Ketzerprozess gegen Luther eröffnet. Am Rande des Reichstags in Augsburg verhört einige Monate später der päpstliche Gesandte Kardinal Thomas Cajetan den Reformator. Der weigert sich jedoch standhaft zu widerrufen - in Verhören wie in Disputationen.
1519 tritt mit Karl V. (1500-1558) ein neuer Kaiser des Heiligen römischen Reiches und somit auch ein neuer Gegner Luthers auf den Plan. Er sieht sich als Schutzherr der bisherigen Kirche.
Wichtige Schriften
Der aufmüpfige Mönch, der noch immer meint, seine katholische Kirche reformieren zu können, verfasst 1520 drei der bedeutendsten reformatorischen Schriften. Seine wohl wichtigste Programmschrift heißt: "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Sie ist so etwas wie das christliche Grundgesetz und liest sich in manchen Passagen wie eine Anstiftung zur Revolution. In zwei Thesen fasst Luther die Bedeutung des christlichen Lebens zusammen: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan."
Damit überzeugt er große Teile der Bevölkerung, deren Sehnsucht sich in einem Wort manifestiert: Freiheit. Befreiung von der Angst vor Tod und Höllenqualen, Befreiung von Ablass und anderen finanziellen Abgaben, Befreiung von Unterdrückung durch die Obrigkeit.
Doch Luther hat ein völlig anderes Verständnis von Freiheit als die Menschen seiner Zeit. Er verwendet diesen Begriff nur im theologischen Sinn und bezieht sich dabei auf den Apostel Paulus in der Bibel. Danach ist der Mensch in seiner Grundhaltung niemals frei, sondern wird entweder vom Teufel oder von Christus beeinflusst. Mit anderen Worten: Entweder herrscht in einem Menschen die Sünde oder das Gute. In diesem Sinne will Luther die Menschen zum Guten, also zu Christus befreien. Der Geist der Freiheit, wie ihn weite Teile der Zeitgenossen des Reformators definieren, ist für Luther kein guter Geist. Bestätigt sieht er sich in seiner Meinung, als es 1525 zum Bauernkrieg kommt, der von den Soldaten der Fürsten blutig niedergeschlagen wird. Politische Radikalisierung und bewaffnete Revolution lehnt er ab.
Das "Imperium" schlägt zurück
Provokante Thesen, reformatorische Schriften, die Weigerung, all dies zu widerrufen – im Januar 1521 ist für den Papst das Maß voll – er spricht den Bann über Luther aus.
Im April 1521 muss der sich beim Reichstag in Worms vor Kaiser und Fürsten rechtfertigen. In seiner berühmten Rede vom 18. April 1521 sagt er, dass er nur dann widerrufen werde, wenn er durch die Fakten der Bibel widerlegt wird. Außerdem betont er: "Ich kann und will nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist." Er endet mit den berühmten Worten: "Hier stehe ich. Gott helfe mir. Amen." Darauf hin verhängt Kaiser Karl V. im Wormser Edikt die Reichsacht über ihn und verbietet die Verbreitung seiner Schriften.
Fruchtbare Wartburg-Zeit
Hilfe für Luther lässt nicht lange auf sich warten. Sein Landesherr, Friedrich der Weise, schaltet sich insgeheim ein. Der Kurfürst von Sachsen organisiert im Mai 1521 eine Entführung des für vogelfrei erklärten auf dessen Rückreise von Worms. Luther wird auf der Wartburg bei Eisenach in Schutzhaft genommen. Dort lebt er unerkannt unter dem Pseudonym "Junker Jörg".
Er nutzt diese zehn Monate, indem er zahlreiche Schriften verfasst, die dem Anliegen der Reformation zusätzlich Profil geben. Außerdem realisiert er in nur elf Wochen eine weitere Großtat. Auf der Wartburg übersetzt er das Neue Testament der Bibel ins Deutsche – und zwar als Erster aus dem altgriechischen Grundtext. Bis dahin existieren rund 70 mehr oder weniger verständliche Fassungen und Abschnitte des Neuen Testaments. Allen lag jedoch der lateinische Text zugrunde. Der aber war bereits eine Übersetzung mit zahlreichen Ungenauigkeiten. Luthers Übersetzung wird ab 1522 gedruckt. Ihm gelingt damit ein sprachliches Meisterwerk und deshalb zugleich ein Bestseller. Ein solches Buch ist jedoch kein billiges Vergnügen, denn es hat den Wert eines halben Mastochsen.
Neue Akzente
Anfang März 1522 kehrt der vermeintliche Ketzer trotz verhängter Reichsacht an seinen Wirkungsort Wittenberg zurück und stürzt sich in seine vielfältige Arbeit.
Immer wieder gelingt es Luther seine Zeitgenossen zu überraschen. So heiratet der bis dahin zölibatär lebende Mönch 1525 die frühere Nonne Katharina von Bora. Mit ihr, die sechs Kinder zur Welt bringt, gründet der Reformator das erste evangelische Pfarrhaus. Es wird Vorbildcharakter bis ins ausgehende 20. Jahrhundert haben, ist es doch der Prototyp einer geistlichen und organisatorischen Zentrale der Kirchengemeinde vor Ort.
1526 beschließt der Reichstag in Speyer Bemerkenswertes. Fürsten und Städten wird es selbst überlassen, ob sie katholisch bleiben oder konvertieren wollen. Daraufhin gründen sich erste Lutherische Landeskirchen. Im Jahr darauf wird im hessischen Marburg die erste evangelische Hochschule eingeweiht.
Handwerkszeug für Gläubige und Pfarrer
Unterdessen nimmt Luthers publizistisches Wirken immer größere Dimensionen an. Auf seinen Besuchsreisen muss er feststellen, dass die Menschen im Land über den christlichen Glauben meist sehr wenig wissen. Aus diesem Grund schreibt er 1529 den sogenannten "Kleinen Katechismus" für die Bevölkerung. Er enthält eine Deutung der Zehn Gebote, des Glaubensbekenntnisses, des Vaterunser-Gebets, der Taufe und des Abendmals. Luthers "Großer Katechismus", der ebenfalls 1529 erscheint, richtet sich an die Pfarrer. Er ist bis heute das Kompendium evangelischer Glaubenslehre schlechthin.
Ebenfalls 1529 protestieren reformatorische Fürsten auf dem Reichstag in Speyer gegen das noch immer gültige Wormser Edikt. Auf diese Weise kommt der Protestantismus zu seinem Namen. Zuvor hatte Luther bereits den Begriff "evangelisch" (evangeliumsgemäß) für seine Bewegung kreiert.
Letzte Einigungsversuche
Ende Juli 1530 lädt Kaiser Karl V. zu einem Reichstag nach Augsburg ein. Das Reich droht nicht zuletzt an der von Luther hervorgerufenen Glaubensspaltung zu zerbrechen. Als kirchlich Gebannter und politisch Geächteter kann er es nicht riskieren, persönlich daran teilzunehmen. Also verfolgt Luther die Ereignisse von der sicheren Veste Coburg aus, die gerade noch zum Herrschaftsbereich des sächsischen Kurfürsten gehört.
In Augsburg lässt Luther sich durch seinen Freund und Weggefährten Philipp Melanchton vertreten. Dieser hatte zuvor in Abstimmung mit Luther die 28 Artikel der "Confessio Augustana", des Augsburger Bekenntnisses, verfasst. Sie sollen den Nachweis liefern, dass die Protestanten in Fragen der Lehre ganz auf dem Boden der katholischen Kirche geblieben waren. In zähen Verhandlungen bemüht sich Melanchton um die Anerkennung des protestantischen Bekenntnisses durch die katholische Seite. Letztlich vergeblich, die Veröffentlichung des Augsburger Bekenntnisses verfehlt ihr Ziel.
Politische Großwetterlage hilft der Reformation
Kaiser Karl V. kann es sich jedoch nicht leisten, gegen die Evangelischen hart durchzugreifen. Das türkische Heer bedroht das Abendland und somit das Heilige Römische Reich. In dieser prekären Lage ist er auf jede Form militärischer Hilfe angewiesen. Um die innere Einheit zu stärken, gesteht Karl V. 1532 den Evangelischen in einem Abkommen Religionsfreiheit für die Beteiligung am Türkenkrieg zu. Der Konflikt zwischen den beiden Religionsparteien wird jedoch erst viel später durch den "Augsburger Religionsfrieden" im Jahr 1555 beigelegt.
Die Lutherbibel als Bestseller
Luther ist den Menschen seiner Zeit noch den ersten Teil der Bibel auf deutsch schuldig. Gemeinsam mit einigen Experten vollendet er 1534 die Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen. Luthers Übersetzungstalent, seine bildhafte und einprägsame Sprache ist für die Menschen im Heiligen Römischen Reich sprachbildend und fördert zudem deren Gefühl von nationaler Einheit. Bis heute sind mehrere hundert Formulierungen aus Luthers Bibelübersetzung, dazu Sprichwörter und Redewendungen in der deutschen Sprache im Gebrauch.
Das wichtigste aber: Durch diese Fassung sind ab 1534 erstmals nicht nur höhere Bildungsschichten in der Lage, selber die Bibel zu lesen. Von nun an kann sich jeder, der lesen kann, selbst davon überzeugen, was im Buch der Bücher steht. Von der Komplettfassung der Lutherbibel werden in den ersten zwölf Jahren 100.000 Exemplare verkauft. Damit ist ihr Übersetzer der auflagenstärkste Publizist des 16. Jahrhunderts.
Luthers Judenhass
Keinesfalls von christlicher Nächstenliebe und Toleranz geprägt ist der Umgang von Christen und Juden. An zahlreichen Kirchen ließen Christen im Spätmittelalter Schmähskulpturen einer "Judensau" anbringen. Sie zeigen Juden, die an den Zitzen des Tieres saugen, obwohl es ihnen als unrein gilt. Solche in Stein gemeißelte, bösartige Angriffe sollten Juden verhöhnen, ausgrenzen und demütigen. Etwa 30 sind heute noch erhalten, so auch an der Kathedrale vom Metz, dem Dom von Upsala oder dem Kölner Dom.
Auch Luther ist in der Bewertung der Juden und ihres Glaubens ganz Kind seiner Zeit. 1523 hatte er zwar betont, "dass Jesus ein geborener Jude sei". Er plädierte in dieser Schrift sogar dafür, dass Juden – wenn sie sich zum Christentum bekehrten – in allen Berufen arbeiten sollten und nicht nur im Geldhandel.
Doch 20 Jahre später ist eine gewisse Spur von Zuneigung bei Luther in blanken Hass umgeschlagen. Mit seiner 1543 erschienenen Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" offenbart er mehr als den an sich schon schlimmen religiös motivierten Judenhass des Mittelalters. Er bezeichnet die Juden als "Christus-Mörder". Ihre Synagogen niederzubrennen, ihre Häuser zu zerstören, sie letztlich zu vertreiben, sind nur drei seiner Forderungen. Manche Wissenschaftler bewerten Luthers Aussagen sogar als "vormodernen Antisemitismus".
Über die Ursache für diesen Gesinnungswandel des alten Luther kann nur spekuliert werden. Womöglich liegt dem eine enttäuschte Hoffnung zugrunde. Vermutlich hatte er erwartet, dass die Juden im von ihm erneuerte Evangelium Jesus als wahren Messias erkennen und zum evangelischen Glauben konvertieren würden. Das geschah nicht. Und so bleibt bei aller Genialität des Reformators dieser Schandfleck bis heute an ihm haften.
Luthers Lebenswerk
Als Martin Luther am 18. Februar 1546 bei einem Aufenthalt in seiner Geburtsstadt Eisleben stirbt, hinterlässt er ein immens großes Lebenswerk. Seine Ideen und die anderer Reformatoren haben sich ihren Weg durch Reich und Abendland gebahnt. Für die einen sind sie ein Segen, für die anderen ein Fluch. Doch die Reformation ist unumkehrbar und damit auch die von ihr ausgelösten Veränderungen in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen. Sie führen in eine neue Zeit. Dennoch: Zu diesem Zeitpunkt ahnt niemand, welche bestialisch geführten Konfessionskonflikte folgen werden.
Erst im Jahr 1999 erkennt die katholische Kirche Luthers Rechtfertigungslehre an und nimmt damit offiziell ihre frühere Lehrverurteilung in dieser Frage zurück: Die sogenannte "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" ist ein Meilenstein im evangelisch-katholischen Dialog. Denn damit machen sich auch Katholiken Luthers Erkenntnis zueigen: Allein aus Gottes Gnade wird ein Mensch selig, nicht durch Taten - seien sie noch so groß und gut.
TV-Thementag: 500 Jahre Reformation. Alles rund um Martin Luther und die Reformation am 31.10.2017 einen ganzen Tag lang bei DW Deutsch und in unserem Online-Special auf dw.com/kultur. Beginn 6 Uhr UTC (7 Uhr MEZ). Livestream: http://www.dw.com/de/media-center/live-tv/s-100817