50 Jahre Theatertreffen Berlin
6. Mai 2013Constanze Becker ist eine ganz außerordentliche Schauspielerin. Und eine große Tragödin. Dafür wurde sie im März ausgezeichnet, mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring, dem wohl bedeutendsten Schauspielerpreis Deutschlands. Geehrt wurde die 34-Jährige für ihre Titelrolle in der Euripides-Tragödie "Medea", inszeniert von Michael Thalheimer. Dieser kraftvolle, scharfkantige Abend eröffnet nun das 50. Theatertreffen Berlin (3.5. bis 20.5.2013). Constanze Becker, schwärmt die Jury, lasse sich hier beim Denken zusehen und stoße unendlich viele Gedanken an. "Mit dieser Medea übertrifft sie sich selbst. Und führt Medea von der Antike in die Moderne."
Die Auswahl
Sieben Theaterkritiker und -kritikerinnen verantworten in schöner Tradition die Auswahl des Theatertreffens. Unglaubliche 423 Aufführungen hat das Gremium in den letzten Monaten in Deutschland, Österreich und der Schweiz begutachtet, es hat sich über die Inszenierungen die Köpfe heiß geredet, hat gestritten und sich schließlich für große Staats- und Stadttheater sowie die Vielfalt der Formen entschieden. Beim Jubiläum, bei diesem 50. Theatertreffen, sollen die Klassiker - Bertold Brecht, Hans Fallada, Gerhard Hauptmann - gefeiert und auch soziale Themen verhandelt werden.
Um Reichtum und Konsumwut in Münchens teuerster Straße geht es in Elfriede Jelineks "Die Straße. Die Stadt. Der Überfall", einem Stück, das die Literaturnobelpreisträgerin den Münchner Kammerspielen zum 100. Geburtstag geschrieben hat. Tennessee Williams "Orpheus steigt herab", ebenfalls inszeniert in den Münchner Kammerspielen, beleuchtet Rassismus, Neid und Intoleranz in einer amerikanischen Kleinstadt, Herbert Fritsch zeigt mit "Murmel, Murmel" aberwitziges akrobatisches Körpertheater, und in "Disabled Theater" des französischen Choreographen Jérôme Bel spielen Schauspieler mit dem Down-Syndrom all ihre Stärken furios aus.
Das Treffen
Das Theatertreffen habe etwas von einem Klassentreffen, schreibt Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, in seinem Grußwort zur aktuellen Ausgabe. Es sei ein Publikumsfestival und eine Lehrerkonferenz, ein Spezialistentreffen und ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, "die Kür der Besten nach einem Jahr harter Arbeit". Oft sind es wohl tatsächlich die Besten, die zum Schaulauf in Berlin antreten. Obwohl die Jury eigentlich nicht nach besonders guten, sondern nach den bemerkenswertesten Inszenierungen der Saison Ausschau halten soll. Was das genau meint, weiß indes niemand so genau. Weshalb alle gerne darüber reden.
Und geredet wird ja viel bei diesem Theatertreffen, das 1964 in politisch angespannten Zeiten erfunden wurde. Deutschland war geteilt, quer durch Berlin verlief die Mauer. West-Berlin drohte kulturell ins Abseits zu geraten. Das Theatertreffen mit seinen eingeladenen Inszenierungen, von Beginn an ausgewählt von einer unabhängigen Jury, brachte sodann ein wenig Weltläufigkeit in die Inselstadt Westberlin. Das war, erinnert Claus Peymann, "als wenn Sie auf einer einsamen Insel sitzen und auf einmal kommt ein Schiff und bringt Ihnen eine Flasche Champagner".
Die Zeitläufe
Claus Peymann, heute künstlerischer Leiter des Berliner Ensembles und 75 Jahre alt, wurde bislang 17 Mal zum Gipfeltreffen der Zunft geladen. So häufig wie der gleichaltrige Peter Stein und nur übertroffen von der inzwischen verstorbenen Regie-Legende Peter Zadek, der es auf 21 Einladungen gebracht hat. Dem Theatertreffen verdanke er außerordentlich viel, sagt Claus Peymann. Immer sei es ein Erlebnis gewesen und jedes Mal gut für die Karriere: "Bessere Arbeitsbedingungen, bessere Schauspieler, größere Etats für das Bühnenbild und so weiter und so fort". Tatsächlich entwickelte sich der alljährliche Branchentreff nicht nur zum Karrierebeschleuniger, sondern auch zum Spiegel der Zunft.
Denn den wechselnden Jurys ist es gelungen, die wesentlichen Entwicklungen im deutschsprachigen Theater einzufangen. Vom Regie-Theater Claus Peymanns und Peter Steins, das in den 70-er und 80-er Jahren aus klassischen Stücken aktuell Interessantes und Brisantes heraus destillierte, über Blutige und Nackte auf der Bühne, laute Chöre und zärtliches Tanztheater bis zu Videoschnipseln, internationalen Koproduktionen, freien Gruppen und Dokumentartheater, zu verblüffenden Raumerfindungen, Theaterberserkern und – immer wieder, außerordentlichen Huldigungen der Schauspielkunst. Wie man sich im deutschsprachigen Theater die Welt erklärt hat, hier war und ist es zu sehen!
Das Bemerkenswerte
Im letzten Jahr, Yvonne Büdenhölzer leitete das Theatertreffen erstmals, sagte sie, die Auswahl halte "die Erschütterungen und ästhetischen Umbrüche des gegenwärtigen deutschsprachigen Theaters seismographisch fest". Tatsächlich ist das wohl seine besondere Leistung. Immer ist das Theatertreffen mit der Zeit gegangen. Vor 1989, als es die Theaterrebellen feierte und immer wieder auch Inszenierungen aus der DDR einlud, die aber nie gezeigt wurden. Und im wiedervereinigten Deutschland, im dem es sich vom Schaufenster für den Westen zur Leistungsschau des gesamten deutschsprachigen Theaters entwickelte und nun auch die radikalen Inszenierungen ostdeutscher Regisseure - Frank Castorf, Einar Schleef, Andreas Kriegenburg - präsentierte.
Konstant geblieben ist über die Jahrzehnte die Zahl der eingeladenen Inszenierungen: zehn waren und sind es, von winzigen Ausnahmen abgesehen. Das Treffen selbst aber hat sich ständig neu erfunden und ist im Laufe der Zeit auch größer geworden: Heute gehören ein Stückemarkt dazu, Workshops für den internationalen Theaternachwuchs, Diskussionsrunden, Preisverleihungen, ein Blog. Und natürlich das Publikum, das die einmalige Stimmung dieser Tage im Mai in vollen Zügen genießt.
Das Fest
Man feiert das Treffen einer Familie, die ständig wächst, gelegentlich Verluste zu beklagen hat, die sich streitet, liebt, verehrt und in immer mehr Ländern zu Hause ist. Längst spiegelt das Theatertreffen die Internationalisierung der Branche – in diesem Jahr zeigt die Britin Katie Mitchell ihre Kölner Inszenierung von "Reise durch die Nacht", und der Belgier Luk Perceval hat in Hamburg "Jeder stirbt für sich allein" inszeniert. Während des Theatertreffens entstehen aber auch grenzüberschreitende Arbeitsbeziehungen. Und was hier von Kuratoren aus dem Ausland begutachtet wird, steht nicht selten anschließend auf dem Spielplan internationaler Festivals. Vorhang auf für das 50. Theatertreffen Berlin!