5 Kritikpunkte an der Berlinale
4. Dezember 20171. Die Schwäche des Wettbewerbs
Die Filmauswahl des Wettbewerbs lässt oft keinen Mut und keine kuratorische Handschrift erkennen. Der Wettbewerb hat stark an Bedeutung verloren. (Süddeutsche Zeitung)
Der Vorwurf: Der mit Abstand wichtigste Punkt der Berlinale-Kritiker ist die anhaltende schwache Qualität vieler Wettbewerbsbeiträge. Schon seit einigen Jahren wird moniert, dass der Wettbewerb um den Goldenen und die Silbernen Bären zu wenig künstlerische Qualität besitze. Zu viele mittelmäßige Beiträge würden das Niveau insgesamt senken. Der Berlinale-Wettbewerb könne mit der Konkurrenz in Cannes und Berlin nicht mithalten.
Stimmt das? Der Vorwurf ist berechtigt. Viele Filme, die im Wettbewerb gezeigt werden, schaffen später noch nicht einmal den Sprung ins Kinoprogramm. Zwar gibt es in der Bären-Konkurrenz in Berlin immer wieder Entdeckungen zu machen, zumal aus Kinonationen, die sonst nicht so im Blickfeld stehen, doch insgesamt war die Qualität in den letzten Jahren eher mäßig. Vergleicht man die Berliner Bärengewinner mit den Palmengewinnern aus Cannes (und nicht nur die Hauptpreise), so fällt auf, dass Berlin wesentlich schlechter abschneidet. Dieter Kosslick hat soeben selbst noch gesagt, dass es pro Jahr "nur 30 bis 40 supertolle Filme gibt, um die sich drei Festivals streiten." Da hat er Recht. Wenn man allerdings die vielen Nebenreihen der Berlinale betrachtet, so finden sich dort immer wieder einige Perlen, so dass man sich fragt: Warum bündelt man nicht die Qualität? Das führt zum nächsten Punkt…
2. Die Aufblähung der Berlinale insgesamt
Durch die lange Amtszeit von Dieter Kosslick hat die Berlinale einen künstlerischen Bedeutungsverlust erlitten. Ein Kurswechsel ist dringend notwendig. (Verband der deutschen Filmkritik)
Der Vorwurf: Die Berlinale habe sich längst zu einem riesigen, unübersichtlichen Anbieter von neuen Filmen entwickelt. Das Konstrukt von einzelnen Reihen, Sektionen und Spezialvorstellungen sei kaum noch durchschaubar. Wettbewerb, Forum und Panorama, Berlinale Special und Kulinarisches Kino, Hommage und Retrospektive, Indigenes Kino und Talent Campus, Jugend-, Kinderkino und Perspektive Deutsches Kino, dazu kommen zahlreiche Unterrubriken wie "Art und Essai", "Forum Expanded", etc. Das führe auch dazu, dass sich viele nach den Kriterien der Berlinale fragten. Die Aufblähung des Festivals habe zum künstlerischen Bedeutungsverlust der Veranstaltung beigetragen.
Stimmt das? Die Unübersichtlichkeit hat zweifellos in den letzten Jahren zugenommen. Das weiß auch Kosslick. In der "Zeit" resümierte er jetzt fast schon ein wenig resignativ: "Weg soll offenbar das Kulinarische Kino, denn wenn Kosslick geht, muss auch die Veranstaltung zu Kino, Essen und Filmen über Nahrungsmittelproduktion weg." Doch Kosslick hat auch gute Argumente auf seiner Seite: "Was ist mit den 50000 Kindern und Jugendlichen, mit den 350000 Erwachsenen, die das Festival besuchen? Die wissen nicht, wo die Tür ist, oder was?"
Und: Ist ein Filmfestival eigentlich dafür verantwortlich, den Besuchern (vor allem den Kritikern) die Auswahl mundgerecht zu servieren? Man könnte ja auch argumentieren, dass man sich eben aus allen Programmreihen sein individuelles Programm zusammenzusuchen hat. Auch dies führt wieder zum nächsten Punkt…
3. Konzeptionelle Unschärfe
Das Problem der Berlinale: Das Festival ist nicht zu groß, es ist zu breit. Es geht darum, das System, das Dieter Kosslick geschaffen hat, abzuschaffen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
Der Vorwurf: Heute wisse niemand mehr, warum ein Film im Wettbewerb, im Panorama oder im Forum laufe. Warum es Spezialvorstellungen in der Konkurrenz gebe und warum viele Filme "außer Konkurrenz" im Wettbewerb liefen. Was überhaupt noch Filme im Forum von denen im Wettbewerb unterscheide. Welchen Sinn und Zweck die verschiedenen Forums-Formate hätten.
Stimmt das? Früher liefen im Wettbewerb eher Filme bereits renommierter Regisseure oder herausragende Beiträge jüngerer Filmemacher. Wettbewerbsbeiträge hatten meist den Anspruch, ein größeres Publikum zu erreichen. Das Forum hingegen, gegründet in Zeiten ideologischer Grabenkämpfe, zeigte eher risikofreudiges, experimentelles Kino, suchte neue Wege der Filmkunst.
Diese Unterschiede gibt es heute so nicht mehr. Ist das aber nun zu bedauern? Wird der Zuschauer nicht so auch aufgefordert, selbst zu unterscheiden und zu bewerten? Spiegelt diese Entwicklung nicht unsere heutige Zeit wider, in der die klassische Unterscheidung zwischen U (Unterhaltung) und E (Ernste Kunst) nicht mehr gilt?
4. Überflüssige Nebenreihen
Die Erklärung der 79 richtet sich gegen das Supermarktangebot von tausend Neben-Events, das Unübersichtlichkeit an Stelle von Kuratierung setzt. (Welt am Sonntag)
Der Vorwurf: Manche Nebenreihen würden als schlichtweg überflüssig erachtet. Andererseits höre man zum Beispiel, die Sektion "Kulinarisches Kino" sei ein persönliches Steckenpferd von Dieter Kosslick. Der Festivaldirektor sei ein Freund der gesunden Ernährung, interessiere sich für die weltweite Nahrungsmitteproduktion. Kritisiert werden oft auch Rote-Teppich-Premieren in der Reihe "Berlinale Special", bei denen man das Gefühl habe, hier würden Filme ausschließlich gezeigt, weil ein paar prominente Darsteller über ebenjenen Teppich laufen dürften. Also: Glamour und Blitzlichtgewitter statt Filmkunst und inhaltliche Schärfe.
Stimmt das? Wie bei so vielen Debatten haben beide Seiten gute Argumente. Die Reihe "Kulinarisches Kino" bildet sicher nur einen Nebenaspekt des Kinos ab. Man könnte sich die Veranstaltung, bei der ja nicht nur Filme gezeigt werden, sondern auch gekocht und serviert wird, gut außerhalb der Berlinale vorstellen. Bei den zahlreichen Rote-Teppich- und "Außer Konkurrenz"-Vorstellungen außer- und innerhalb der klassischen Berlinale-Reihen werden oft mittelklassige Filme gezeigt. Andererseits: Die Vorstellungen sind fast immer gut besucht, oft ausverkauft. Kann man dagegen argumentieren?
5. Filmhistorisches im Abseits
Wer in Zeiten des Kinosterbens und des Serienblühens einen hochkarätigen Arthouse-Wettbewerb zusammenstellen und mit Cannes und Venedig konkurrieren will, braucht beste Filmkenntnis ... ohne Cinephilie geht es nicht. (Der Tagespiegel)
Der Vorwurf: Sicher nur ein Nebenaspekt der Kritik, für Kinoliebhaber und Filmkritiker aber nicht unwichtig. Schließlich sei es ja auch diese Gruppe, die die Berlinale in der Presse und Öffentlichkeit am deutlichsten kritisiere. Diagnostiziert wird der quantitative Rückbau der Retrospektive in der Ära Dieter Kosslick. Die filmhistorische Schau, die das aktuelle Programm der Berlinale ergänzt, wäre früher mehr beachtet und unterstützt worden. Als Kosslick kam, gingen einige altgediente Filmexperten von Bord. Noch immer leiste die Retrospektive Großartiges, doch es würden weniger Filme als früher gezeigt, die publizistische Begleitung würde arg zurückgefahren.
Stimmt das? Experten sehen inzwischen bei anderen Festivals aufwendiger kuratierte Retrospektiven, wie zum Beispiel beim Festival in Locarno. Dort wurde im vergangenen Jahr die große Retrospektive "Geliebt und Verdrängt: Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland" gezeigt, die für eine Neubewertung dieser Kino-Ära plädierte. Viele fragten sich, warum so etwas nicht bei der Berlinale lief. Mag sein, dass Kritikpunkt Nr. 5 eine Klage auf hohem Niveau ist, die Festivalleitung sollte sie aber nicht unbeachtet lassen.