Ian Buruma: "Die Welt am Wendepunkt"
7. Mai 2015"Ich glaube nicht recht an die Idee, es ließe sich aus der Geschichte viel lernen", schreibt der niederländisch-amerikanische Publizist Ian Buruma und fügt trotzdem mit seinem Buch zum Kriegsende und der unmittelbaren Nachkriegszeit der fast unübersehbaren Literatur zum Wendejahr 1945 eine weitere Untersuchung hinzu. Seine Motivation ist zunächst eine ganz persönliche. Burumas Vater, zu jener Zeit Jura-Student in Utrecht, war 1943 von den Nazis zum Arbeitsdienst in Berlin gezwungen worden. Er überlebte die Zwangsarbeit, die Bombardierungen der Amerikaner und Briten, vor denen sich Häftlinge gewöhnlich nicht schützen durften, geriet im April 1945, als die Berliner Innenstadt komplett ausgebombt war, in eine Vorstadtvilla und wurde um ein Haar dort von sowjetischen Soldaten erschossen. Nur der Umstand, dass im kritischen Moment ein sowjetischer Offizier mit ein paar Brocken Englischkenntnissen auftauchte, rettete ihn. Sein Weg zurück nach Holland führte über ein Lager für "DPs", Displaced Persons, wo er sich mit tausenden Menschen aller Nationalitäten, auch ehemaligen KZ-Häftlingen, einen einzigen Wasserhahn teilen musste, und eine Prostituierte, die ihm das Leben rettete.
Ein halbes Jahr später, im September 1945, unterzieht sich dieser noch immer von Hunger und Erschöpfung gezeichnete 22-Jährige den grausamen Aufnahmeritualen einer Studentenverbindung. Wie auch jüdische Studenten, die in Verstecken in Holland den Krieg überlebt hatten, ließ er sich dabei demütigen und in enge Kellerabteile quetschen – bereit, für die Rückkehr in eine Welt, wie sie vor der Nazibesatzung existiert hatte, Opfer zu bringen. Doch die ersehnte Normalität sollte sich als Illusion erweisen, das Leben konnte nicht einfach weitergehen wie vor dem Krieg.
Die Welt am Wendepunkt
Angeregt durch die Geschichte des eigenen Vaters, stellt sich Buruma, der als Professor für Menschenrechte, Demokratie und Journalismus am Bard College lehrt und in New York lebt, die Frage, wie die Welt aus den Trümmern des verheerendsten Kriegs der Menschheitsgeschichte wieder aufstehen konnte. Was passierte in den entscheidenden Monaten und Jahren, als Millionen hungerten oder auf Rache sannen, als Schuldige ausgemacht werden und ganze Volksgruppen eine Heimat finden mussten? Welche Hoffnungen konnten die in den Jahren des Kampfes gegen den Faschismus neu entstandenen oder freigesetzten gesellschaftlichen Kräfte erfüllen, nachdem es keine Rückkehr zur alten Ordnung von vor 1939 gab?
Antworten auf diese Fragen sind in detaillierten, quellenkritischen historischen Untersuchungen schon vielfach und lange vor dem 70. Jahrestag der deutschen Kapitulation gegeben worden. Im allgemeinen deutschen Bewusstsein wird die historische Wende spätestens seit 1985 und der entscheidenden Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker mit einem Dreischritt interpretiert, als Niederlage, Befreiung, Neuanfang. Burumas Methode ist eine andere. Er untersucht alle Facetten, die auch in den Erfahrungen seines Vaters eine Rolle spielten, mit einem weltweit erweiterten Fokus.
Zwischen Anarchie und Gewalt
Mit dem Jubel über die Befreiung von der Naziokkupation in Europa ging das Leiden der auch in Asien zu Abertausenden vergewaltigten Frauen einher. Wie war zu erklären und moralisch zu bewerten, dass sich ein nicht geringer Teil der weiblichen Bevölkerung freiwillig oder gezwungenermaßen auf dem unscharfen Grat zwischen Fraternisierung und Prostitution bewegte? Allein in Deutschland saßen 1945 acht Millionen Vertriebene und Verschleppte fest – wer fühlte sich für die Zigmillionen Displaced Persons weltweit verantwortlich? Welche Wurzeln schlug der Glaube, dass aus der Asche der alten eine neue, bessere Welt entstehen musste, im einst kolonialistisch, dann von den Japanern grausam beherrschten Ost- und Südostasien? Findet sich schon in den Idealen der Nachkriegszeit der Kerngedanke eines vereinten Europas, auch wenn der Weg dahin in verschiedenen Ländern zunächst nicht über eine Demokratisierung, sondern über Faschismus, Kommunismus und den Kalten Krieg führte?
Als ausgebildeter Japanologe und Chinakenner fällt es Buruma leicht, seine Fragen transnational zu stellen und auf der Suche nach Antworten mehrfach die Welt zu umrunden. Diese große Zusammenschau zeichnet sein Werk aus. Einzigartig ist auch seine Herangehensweise, die zwar historisch, aber nicht analytisch und nicht ausschließlich empirisch ist. Der Autor ist Wissenschaftler, aber auch Romancier, und so lag es nahe, dass er neben Tagebuchaufzeichnungen auch literarische Zeugnisse und persönliche Stimmen zitierte.
Bilder und Geschichten
Durch diese unorthodoxe Mischung gelingt ihm in mehrfacher Hinsicht eine Globalgeschichte der Nachkriegszeit: Er definiert das Kriegsende nicht aus deutscher Perspektive, sondern zeitlich und räumlich neu als eine lang währende Phase, die mit der Landung der Alliierten auf Sizilien für Italien 1943 begann und erst mit Ende des Bürgerkriegs zwischen Chiang Kai-sheks Nationalisten und den Kommunisten unter Mao Zedong in China 1949 abgeschlossen war.
Buruma erzählt punktuell die Alltagsgeschichte von Individuen und verknüpft sie mit den im Nachhinein oft schwer fasslichen Entscheidungen der großen Politik, die für unvorstellbar viele Menschen oft weiteres Leid, wenn nicht gar den Tod bedeuteten – so zum Beispiel für die während des Krieges mit den Nazis assoziierten Kosaken, die Juni 1945 im österreichischen Kärnten Zuflucht suchten und auf Beschluss der Alliierten zwangsweise in die Sowjetunion repatriiert wurden.
Ein Fundament für die Gegenwart
Und er zeigt die Linien auf, die sich bis in die Gegenwart ziehen – als Ergebnis der Fragen, wie die überlebenden Juden Deutschlands und Osteuropas eine Heimat finden und wie mit Millionen von Schuldigen, die nicht alle verfolgt werden konnten, umgegangen werden sollte. War es überhaupt möglich, in Deutschland und Japan, aber auch in den von diesen überfallenen Ländern neu Bildung, Verwaltung und Rechtsordnung aufzubauen? Mit einem oft nicht austauschbaren Personal an Lehrern, Verwaltungsbeamten und Juristen, mit einstigen Kollaborateuren oder mit weiter agierenden faschistischen, linken oder kommunistischen Partisanen?
Auf den Leichenberge von Bergen-Belsen und Manila, nach der Vernichtung von sechs Millionen Juden durch die Deutschen und grausamsten japanischen Kriegsverbrechen in China, Malaya und den Philippinen stellte sich die Aufgabe, Fundamente für einen langfristigen, weltweiten Frieden zu legen. Ian Buruma beschreibt mit seiner nicht chronologisch, sondern thematisch verknüpfenden Sichtweise anschaulich die Versuche dazu, in einem äußerst lesenswerten und dank seines journalistisch geschliffenen Stils gut lesbaren Werk zur epochenprägenden Stunde Null.
Ian Buruma: "'45 – die Welt am Wendepunkt", aus dem Englischen von Barbara Schaden. 432 Seiten, München (Hanser Verlag), 26 Euro.