2015 war kein gutes Jahr für Europa
16. Dezember 2015"Unter meiner Führung werden wir alles tun, um zu schützen, was wir geschaffen haben", ruft EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zum letzten Mal in diesem Jahr in die Runde des Europaparlamentes. Juncker meint damit den Schutz des Schengen-Systems in Europa, der Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen. Von allen Errungenschaften scheint diese im Moment am meisten gefährdet. Aber diesen Satz könnte Juncker auch gleich als Motto über das kommende Jahr 2016 setzen: Noch nie strebte die EU so auseinander wie in den vergangenen zwölf Monaten, noch nie schien der Kampf, sie zusammenzuhalten, so schwer. Und das wird nahtlos so weitergehen.
Gemeinsamer Grenzschutz brüchig
Die EU-Kommission will verhindern, dass die Schengen-Vereinbarung schrittweise zerstört wird. Als Mittel zu diesem Zweck sieht sie die von ihr vorgeschlagene eigene Grenzschutztruppe mit Eingriffsrechten auch gegen den Willen eines Mitgliedslandes. Ein Vorschlag, den die Christdemokraten und Liberalen im Parlament unterstützen, den Grüne, Linke und Teile der Sozialdemokraten aber kritisieren. Die einen halten den Schutz der Außengrenzen für unerlässlich, die anderen warnen vor einer Abschottung gegenüber Schutzbedürftigen.
Und der Wille, einen Kompromiss zu finden, ist gering, bei den Abgeordneten wie den Mitgliedsländern, die in dieser Frage das Sagen haben. Das zeigt einmal mehr die Gespaltenheit der Union, wie viele weitere Themen des ablaufenden Jahres.
"Wir müssen 2016 zu einem besseren Jahr machen", plädiert deshalb auch Liberalen-Führer Guy Verhofstadt, der zu den leidenschaftlichen Europäern gehört. Er sorgt sich schon länger wegen des Trends zur Rückkehr in den vermeintlichen Schutz der Nationalstaaten. "Die Welt von Morgen wird sich nicht um nationale Grenzen scheren, sie wird von China, Indien und den USA bestimmt sein. Wenn wir eine Rolle spielen wollen, können wir das nur zusammen tun oder gar nicht." Als ob die Nationalisten um Nigel Farages UKIP-Partei und Marine Le Pens Front National das nicht auch wüssten. Dennoch: Von ihnen kommen die bekannten Denunziationen der europäischen Idee.
Polarisierung in Europa
"Unsere Politik ist immer mehr in Gefahr, sich zu polarisieren", sagt Syed Kamall, Anführer der britischen Konservativen. Und er warnt davor, dass zu viele derzeit simplistische Antworten anböten: "Manchmal werden nur die Stimmen der Extremisten gehört." Es gebe aber für die Flüchtlingskrise, die Lage in Syrien und die terroristische Bedrohung keine einfachen Lösungen. Wie übrigens auch nicht für die Probleme seines Premierministers David Cameron mit seinem Referendum über einen britischen Verbleib in der EU.
Grüne und Linke plädierten vor allem für mehr legale Wege für Flüchtlinge nach Europa und fordern die Mitgliedsländer auf, ihre Versprechen zur Verteilung und Umsiedlung von Asylsuchenden endlich umzusetzen. 160.000 Menschen, das war die im Sommer vereinbarte Zahl, ungefähr 200 von ihnen fanden bisher tatsächlich eine neue Heimat. Aber selbst über diese Diskrepanz kann sich zur Zeit kaum noch jemand aufregen.
Große Mühe, wenig Ergebnisse
Der deutsche Sozialdemokrat Knut Fleckenstein brachte die Probleme auf den Punkt: "2015 war kein gutes Jahr für die EU. Was beschlossen wurde, wird langsam oder gar nicht umgesetzt." Es fehle der gemeinsame Wille, die Probleme zu lösen. Der britische Premier habe ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft seines Landes angesetzt, "und jetzt müssen wir ihm vom Pferd helfen". Und schließlich:"Noch keine Präsidentschaft musste sich so abrackern wie die Luxemburger, um so wenig zu erreichen."
Da hat er Recht, denn die erfahrenen Luxemburger Minister arbeiteten unermüdlich - mit minimalem Erfolg. "Wenn alle das tun würden, was wir beschlossen haben, wäre das schon ein Fortschritt", sagte der Luxemburger Nicolas Schmit auch für seine Kollegen. Und das beziehe sich auf die Flüchtlingskrise wie den Kampf gegen den Terrorismus - beides Themen, die auch beim Gipfel der Regierungschefs am Donnerstag wieder auf den Tisch kommen.
EU-Vizepräsident Frans Timmermans sprach von einem "Wirbelsturm", der Europa aufgewühlt habe: "Zunächst die Wirtschaftskrise, dann der Terrorismus, schließlich die Flüchtlingsproblematik - kein Wunder, dass viele Europäer unglücklich sind." Ein Hinweis auf den Aufstieg rechtsextremer Parteien, den zuvor schon mehrere Redner angesprochen hatten. Und Timmermans erinnerte schließlich an die europäische Geschichte: "Wir sind kreativ. Wir können aber auch sehr destruktiv sein, wie zwei Versuche zum kollektiven Selbstmord aus dem vergangenen Jahrhundert zeigen."
Derzeit aber werde der Trend stärker, Lösungen gegen die anderen Mitgliedsländer zu suchen und damit gehe die Union quasi rückwärts. Wenn der sonst so nüchterne und unpathetische Holländer jetzt mahnend die Geschichte zitiert, dann wird klar, dass die Stimmung in Brüssel am Ende dieses Jahres ziemlich ernst ist.