Kriegsspiele gegen Napoleon
18. Juni 2015Ein Selfie mit Napoleon und Blücher zur Erinnerung an die Schlacht von Waterloo. Viele Schaulustige der nachgespielten Kämpfe zwischen den französischen, den preußischen und alliierten Armeen nutzen die Gelegenheit, die beiden Feldherren abzulichten, die sich vor 200 Jahren so nicht begegnet sind. "Die korrekte Anrede ist Exzellenz", ermahnt Klaus Beckert, der den preußischen Feldmarschall Blücher spielt, schmunzelnd einen Touristen. In seiner Uniform und mit dem grauen Schnauzbart sieht der 78 Jahre alte Leipziger dem Original sehr ähnlich. Er spielt mit Leidenschaft den "Marschall Vorwärts", wie Blücher von der eigenen Truppe respektvoll genannt wurde, und hat für die Rollenspiele extra Reiten gelernt.
Zusammen mit den anderen "Befehlshabern" versucht Klaus Beckert alias Blücher mit ungefähr 6500 Teilnehmern aus ganz Europa, auf den Feldern rund um das Dorf Waterloo bei Brüssel die historischen Ereignisse nachzuspielen. Das Spiel folgt einem ungefähren Drehbuch mit Zeitangaben, welche Einheit wo aufzutauchen hat. Die Kommunikation ist wie vor 200 Jahren schwierig. Boten und Melder statt Smartphone und Navigationssystem. "Wir können nicht alles nachstellen, wie es damals war. Wir können nicht die vielen Verluste darstellen. Wir können nicht nachstellen, wie es der Zivilbevölkerung erging. Das geht nicht, aber wir können ein Interesse für Geschichte wecken", sagt Klaus Beckert in seiner Uniform. "Das ist natürlich etwas anderes, als am Computer zu sitzen und Krieg zu spielen. Wir schlafen in Zelten, es ist kalt. Manchmal gibt es nichts zu essen, und heute schwitzt man ziemlich." 1815 traten rund 167 000 Soldaten an, 37 000 von ihnen fielen.
"Geschichte wiedererwecken"
Napoleon hat mit seiner Armee vor 200 Jahren am 18. Juni gegen Blüchers Preußen und die Engländer unter dem Duke of Wellington verloren. Nach der vernichtenden Niederlage war Napoleons Herrschaft endgültig vorbei. Europa wurde nach den Beschlüssen des Wiener Kongresses neu geordnet. Dem Napoleon-Darsteller von heute, dem Franzosen Frank Simon aus Orléans, macht die Niederlage, die er bald erleben wird, nicht viel aus. Er weiß, dass die französischen Kanonenkugeln damals nach tagelangem Regen einfach im Matsch steckenblieben. "Das ist nur ein Element, das die Armee behindert, aber schauen wir mal, wie es läuft." Grinsend fügt er hinzu, er habe jedes Jahr verloren und versuche es doch immer wieder von Neuem. "Ich habe schließlich schon 200 Mal versucht zu gewinnen. Vielleicht klappt es ja diesmal." Dieser Wunsch wird dem nachgestellten Napoleon natürlich nicht erfüllt. Am Ende siegen Engländer und Preußen wie vor 200 Jahren. "Leider ist es so, dass wir in Deutschland die Geschichte alle ein bisschen verdrängen. Es ist unser Anliegen, das wiederzuerwecken", philosophiert Feldmarschall Blücher alias Klaus Beckert am Rande des gedachten Schlachtfelds. Es gehe nicht so sehr um das Kriegsspiel. "Krieg ist nie schön, aber der Befreiungskrieg gegen Napoleon war vielleicht der einzige gerechte Krieg, den Deutschland je geführt hat."
"Gewinnen oder Verlieren ist nicht so wichtig"
Mike Zebulla ist einer von Tausenden Soldaten-Darstellern, die über die Felder stapfen und auf die Befehle ihrer Kommandeure reagieren, ohne genau zu wissen, was um sie herum eigentlich genau abläuft. Der Fernfahrer aus Sachsen spielt einen Jäger der Königlich Deutschen Legion unter englischem Oberbefehl. Wie alle anderen hat auch Mike Zebulla in seiner grünen Uniform ein funktionsfähiges Gewehr, für das er einen speziellen Waffenschein für Schwarzpulver braucht. Für die erwarteten 200.000 Zuschauer in Waterloo sollen Büchsenknall, Pulverdampf, Kanonendonner und Attacke zu Pferde geboten werden. "Gewinnen oder verlieren ist nicht das Wesentliche bei diesem Spiel. Wir sprechen auch mit den Feinden oder Gegnern. Wenn man dann abends gemeinsam im Lager zusammensitzt, findet man viele neue Freunde und stellt Gemeinsamkeiten fest." So beschreibt Mike Zebulla seine Motivation für das anstrengende Hobby. Er ist von Sachsen aus nicht mit dem Auto nach Waterloo gefahren, sondern zu Fuß marschiert. 650 Kilometer in vier Wochen. Er ist stolz darauf, dass er das geschafft hat, und fühlt sich den Soldaten von damals noch ein bisschen näher, die ja auch keine Autos hatten.
"Wir haben aber natürlich bessere Schuhe und bessere Verpflegung heute", sagt Zebulla. Er und seine Kameraden schlafen in Zelten, die es vor 200 Jahren für die einfachen Soldaten nicht gab. "Die haben im Regen gekämpft, sind nachts nass schlafen gegangen und morgen nass aufgewacht. Die hatten ein Brot und ein paar Schlucke Branntwein. Wo nahmen die die Motivation her weiterzukämpfen?", fragt sich der Hobby-Militärhistoriker heute. Die Vereine, die "Reenactment" von Geschichte betreiben, kommen in dieser Woche aus der ganzen Welt nach Waterloo. "Ich war 40 Stunden mit den Flugzeug unterwegs", erzählt Mark Koens aus Australien, der eine englische Uniform trägt, dem Sachsen Mike Zebulla. Mark ist schwer beeindruckt, dass Mike zu Fuß gekommen ist. "Es geht hier nicht ums Feiern", stellt er klar, "sondern es geht um das Erinnern. Wir bekommen eine Ahnung davon, was die Leute vor 200 Jahren durchgemacht und erlitten haben. Mark Koens hat niederländische Wurzeln und wollte unbedingt in Waterloo dabei sein.
"Eine neue Zeit für Europa"
Die historische Bedeutung der Schlacht, die mit der Niederlage der Franzosen endete, kann gar nicht hoch genug bewertet werden, glaubt der belgische Historiker Philippe Raxhon, ein ausgewiesener Waterloo-Experte. "Der endgültige Sieg über Napoleon bestätigte die Ergebnisses des Wiener Kongresses, der kurz zuvor beendet worden war. Die Landkarte Europas wurde neu gezeichnet. Es war nur ein vorläufiger Sieg für die Restauration." Die Macht der Königshäuser und der Fürsten in Europa wurde wiederhergestellt, so der Historiker Raxhon im Gespräch mit der DW. Daraus seien dann neue Staaten und Nationen gewachsen, besonders nach den Revolutionen im Jahr 1830. Frankreich habe noch immer ein sehr kompliziertes Verhältnis zur Niederlage bei Waterloo. "Man hat versucht, Waterloo in eine 'glorreiche' unverschuldete Niederlage umzumünzen", glaubt Philippe Raxhon. "Waterloo steht für das Ende der Entwicklung, die mit der Revolution begonnen hatte. Napoleon und sein Erbe sind für die Republik Frankeich immer noch ein Problem." Nur ein Beispiel: Die französische Regierung verhinderte durch ihr Veto die Prägung einer belgischen Zwei-Euro-Sondermünze 200 Jahre nach Waterloo. Das sei kein Grund zum Feiern, hieß es aus Paris.
1974: Waterloo gewinnt Musikpreis
"Die Schlacht hat nur einen Tag gedauert, aber sie hat 200 Jahre an Fantasie, Kunst, Literatur und Geschichten ausgelöst", so der belgische Forscher Philippe Raxhon. In den allgemeinen Sprachgebrauch ist Waterloo als totale Niederlage eingangen. Die schwedische Popgruppe ABBA hat diesem Sprachbild ein musikalisches Denkmal gesetzt. Mit "Waterloo" gewannen die Schweden 1974 den "Grand Prix Eurovision". Allerdings trällerte ABBA von unerfüllter Liebe und nicht von Schlachtengetümmel 159 Jahre danach.