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1989: Die Jugend geht auf die Straße

Sarah Judith Hofmann9. November 2017

Ende der 80er Jahre gehen tausende junge Deutsche auf die Straße – in West und Ost. Die einen für die Natur, die anderen für ihre Freiheit. Und dann kommt sie: die Wende. Doch unter die Euphorie mischen sich neue Ängste.

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Bild: picture-alliance/dpa

Es ist 19 Uhr, als Günter Schabowski kurz die Nerven verliert. Er leitet eine der ersten internationalen Pressekonferenzen der DDR, es geht um das neue Reisegesetz. Ein Reporter hatte noch einmal nachgehakt, ab wann das Gesetz denn gelte, das es jedem DDR-Bürger möglich machen soll, über "Grenzübergangspunkte" auszureisen. Hektisch holt Schabowski einen Zettel hervor: "Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich."

Es ist einer der folgenreichsten Sätze der deutschen Geschichte. Bereits kurz nach der Pressekonferenz, die live im DDR-Fernsehen übertragen wird, stürmen tausende DDR-Bürger an die Grenzübergänge. Vier Stunden später müssen die DDR-Grenzposten vor dem Ansturm kapitulieren und die Sperranlagen "fluten". Die Mauer ist in dieser Nacht gefallen.

Günther Schabowsky

Der Satz von Schabowski ist ein Versehen, das Ausreisegesetz sollte erst am nächsten Tag verkündet werden, die Grenzposten sind daher unvorbereitet. Und doch hatte diese Nacht eine Vorgeschichte. Bereits seit dem Sommer sind rund 200.000 DDR-Bürger über die österreichisch-ungarische Grenze und über die westdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau geflohen. Wie schon vor dem Mauerfall sind es überwiegend junge Menschen, die flüchten.

Aufbruchstimmung

Und: Tausende - vor allem junge - Menschen haben seit Wochen und Monaten auf sogenannten "Montagsdemos" für eine demokratische Öffnung der DDR demonstriert. Sie wurden nicht selten deswegen verhaftet. "Was geht in den Jugendlichen vor, was bleibt in ihnen zurück, wenn sie so behandelt werden?", fragt damals in Leipzig der Landesbischof. "Was sind das für Bürger der Zukunft?" Und auch die Gegenseite, die "sehr jungen Bereitschaftssoldaten" spricht er an, "die jetzt in Kette vorgehen, gegen fast Gleichaltrige. Was geht in denen vor?"

All diese jungen Menschen haben die friedliche Revolution gemacht. Am 9. November 1989 fällt kein Schuss.

Berlin Maueroeffnung am Potsdamer Platz 1989
Bild: picture-alliance/AP

Einer ganzen Generation stehen plötzlich völlig neue Möglichkeiten offen. Sie können reisen, in der Bundesrepublik oder im Ausland studieren. Aber sie werden auch ins kalte Wasser geworfen. In der DDR gab es kaum Arbeitslosigkeit, die Karriere verlief in festen Bahnen, und das Regime bestimmte, wer studieren durfte und wer nicht. Nach der Wiedervereinigung 1990 muss plötzlich jeder selbst sehen, wie er seine Zukunft gestaltet. Doch während dies für viele ältere DDR-Bürger wie ein unüberwindbarer Bruch erscheint, meistern viele junge "Ossis" den Übergang gut. Für die meisten von ihnen herrscht erst einmal positive Aufbruchsstimmung. Anfang der 90er Jahre meldet die Shell-Jugendstudie 71 Prozent Zuversicht unter jungen Leuten.

Atomkraftwerke und der berüchtigte "Schwulenparagraf"

Während in der DDR junge Menschen mit dem Ruf "Wir sind das Volk" für eine friedliche demokratische Neuordnung demonstrieren, findet sich auch die westdeutsche Jugend seit Beginn der 80er Jahre zu Friedenskundgebungen zusammen. Mit Friedenscamps, Sitzblockaden und Menschenketten bekundet sie ihren Unmut über das Wettrüsten der Supermächte und den Bau neuer Atomkraftwerke. An Jeans- oder abgewetzter Lederjacke tragen viele einen gelben Sticker. Darauf: eine lachende Sonne und der Spruch "Atomkraft? Nein danke". Etwa jeder fünfte Wähler unter 24 stimmt Anfang der 80er Jahre bei Landtagswahlen für die neu gegründete Partei "Die Grünen" oder für alternative Wählerlisten. Während der politischen Umbrüche im Herbst 1989 schließen sich Teile der ostdeutschen Friedensbewegung mit den westdeutschen Grünen zusammen. "Bündnis 90/ Die Grünen" heißen sie bis heute offiziell.

Gorleben Atommüllendlager Atomkraft Gegner
Bild: DW/K.Jäger

Auch im gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität vollzieht sich Ende der 80er Jahre eine Wende. Zwar steht Sex unter erwachsenen Männern seit Ende der 60er Jahre in Ost wie West nicht mehr unter Strafe, anders sieht es jedoch aus, wenn es um Jugendliche geht. In der Bundesrepublik sind sexuelle Handlungen zwischen Männern unter 18 verboten. Heterosexuelle Paare hingegen dürfen per Gesetz schon ab 14 Jahren Sex haben.

Jenseits der Gesetzgebung wird in beiden deutschen Staaten Homosexualität zu dieser Zeit relativ offen gelebt. Man trifft sich in Kneipen, im Kino, in der Disco.

Doch die Sondergesetzgebung für Schwule wird erst im Zuge der "Wende" abgeschafft. Die DDR macht 1988 den Anfang. Aus dem bundesdeutschen Strafrecht verschwindet der berüchtigte "Homosexuellenparagraf" erst 1994 - im Rahmen der Angleichung der Gesetzgebung beider deutscher Staaten.

Infografik Legalisierung Homosexualität EU

Punk, Synthesizer und... eine bedrohliche Krankheit

Das Berlin der Wendezeit ist heute legendär. Inmitten des politischen Umbruchs wird besonders der Osten der Stadt zur autoritätsfreien Zone. In Vierteln wie Prenzlauer Berg, schon zu DDR-Zeiten Tummelplatz der "jungen Wilden", gibt es genug Raum für Kreativität. Punks mit Irokesenschnitt finden ebenso ihre Nischen wie "Ökos" mit Wollpulli. Die heruntergekommenen Altbauten werden besetzt, in alten Fabrikgebäuden Partys organisiert. Dort werden die Synthesizer-Sounds voll aufgedreht...

Wenige Jahre später wird das Techno-Spektakel "Love Parade" in Berlin so viele junge Deutsche auf die Straße bringen wie keine andere Musikveranstaltung davor oder danach.

Plakate - Deutsche Aidshilfe
Das erste Werbeplakat der Deutschen Aidshilfe von 1985Bild: DAH

Doch inmitten dieser neuen Freiheit für junge Menschen, die in die Welt hinausgehen und sich auch sexuell ausprobieren können, geht ein Gespenst um: Aids. Die Krankheit wird erstmals 1981 diagnostiziert, drei Jahre später wird der HI-Virus als Ursache identifiziert. Sowohl BRD als auch DDR starten erste Kampagnen im Fernsehen und in Schulen. Doch in der DDR überwiegt der Glaube, die Mauer schütze ihr Bürger - auch vor Aids. Ganz falsch ist das nicht. Bis 1990 haben sich in der DDR 133 Bürger mit dem tödlichen Virus infiziert, 27 Menschen sind bis zum Zeitpunkt der Wende an Aids gestorben. In der BRD hingegen sind bis 1990 fast 42.000 Menschen mit HIV infiziert und mehr als 5000 an Aids erkrankt.

Als im Sommer 1993 die Weltaidskonferenz im wiedervereinten Berlin stattfindet, sind die Forscher noch pessimistisch. 25 Jahre später können Menschen mit HIV in Deutschland dank neuer Medikamente relativ gut leben. Eine Heilung gibt es bis heute nicht.

Generation 1989

Friedensbewegung, Montagsdemos, Mauerfall: Die Jugend hatte gezeigt "Wir sind das Volk". Bis heute ist der 9. November 1989 wohl eines der wenigen Daten deutscher Geschichte, das überwiegend mit positiven Gefühlen verbunden ist. Die Generation derjenigen, die 1989 geboren wurden, wächst mit Freiheiten auf, die noch keine Jugend vor ihr kannte. Und die trotzdem - oder gerade deswegen - vor neuen Herausforderungen steht...