19 Grad - Deutschland friert am Arbeitsplatz
28. November 2022Gerade einmal sechs Grad Celsius zeigt das Thermometer in diesen Tagen morgens in Ludwigsburg, und wer die örtliche Kreissparkasse der 90.000-Einwohner-Stadt nördlich von Stuttgart betritt, dem wird nicht viel wärmer. Bei frischen 19 Grad warten die Bankangestellten dort auf ihre Kundinnen und Kunden, der Temperatur, die seit einigen Wochen den deutschen Arbeitsalltag bestimmt.
Seit dem 1. September, und noch bis zum 28. Februar, dreht das ganze Land die Heizung herunter, um Energie zu sparen. Kreative Ideen sind jetzt gefragt, um nicht zu frieren. Die Kreissparkasse Ludwigsburg stattete ihre 500 Angestellten flugs mit graumelierten Fleece-Jacken aus, schwarze Strickhandschuhe vervollständigen den Einheitslook. Dick eingemummelte Bankmitarbeiterinnen und -mitarbeiter an den Schaltern - willkommen in der neuen deutschen Bibber-Realität im Winter.
Deutschland drosselt die Temperaturen in öffentlichen Gebäuden
"EnSikuMaV" lautet die Abkürzung für ein nicht minder kompliziertes deutsches Wortungetüm, die "Verordnung zur Sicherung der Energieversorgung über kurzfristig wirksame Maßnahmen", die hinter all dem steckt. Und weil diese Energieversorgung durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und das fehlende Gazprom-Gas gefährdet ist, war es an Wirtschaftsminister Robert Habeck, Deutschland auf ungemütliche nächste Wochen und Monate vorzubereiten.
Unter anderem dürfen in öffentlichen Gebäuden Arbeitsräume nur noch bis zu einer Raumtemperatur von höchstens 19 Grad geheizt werden. Ausgenommen sind lediglich Krankenhäuser und Pflegeheime, Schulen und Kindertagesstätten sowie Einrichtungen der Behindertenhilfe. Auch für Arbeitsräume, in denen Beschäftigte arbeiten, deren Gesundheit durch die niedrigen Temperaturen beeinträchtigt werden könnte, gelten die Höchstwerte nicht. Alle anderen müssen sich warm anziehen, wärmer als 19 Grad wird es in deutschen Büros nicht mehr.
Gefahr von Infekten, Atemwegserkrankungen und Asthma steigt
Dr. Anette Wahl-Wachendorf ist Vizepräsidentin des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte und hat am Morgen etwas gemacht, das sie jedem Arbeitnehmer zurzeit ans Herz legt - aber auch etwas, das man in diesen Tagen eher vermeiden sollte: Sie ist zu ihrem Berliner Büro im fünften Stock die Treppen hochgestiegen, statt den Fahrstuhl zu benutzen. Gleichzeitig hat die Ärztin den Dresscode eingehalten, ist mit Bluse und Jackett unterwegs, ziemlich dünn angezogen also, was sie derzeit nicht unbedingt empfehlen würde.
Sie sagt: "Ich kann die Entscheidung der Bundesregierung politisch sehr gut nachvollziehen. Aber ich halte sie trotzdem für einen Schnellschuss. Es wäre besser gewesen, die 19 Grad kritisch mit Fach- und Betriebsärzten im Vorfeld zu reflektieren. Dann hätten wir diese ganzen Diskussionen in Deutschland nicht."
Denn es zeigt sich, dass 19 Grad in Büros auf Dauer für viele Menschen durchaus ein Gesundheitsrisiko darstellen können. Die Weltgesundheitsorganisation warnt, dass vor allem für ältere Menschen, Personen mit niedrigem Blutdruck und jene, die sich wenig bewegen, die Anfälligkeit für Infekte, Atemwegserkrankungen und Asthma signifikant steigt. Bei kälteren Temperaturen verengen sich die Blutgefäße, die WHO weist auch eindringlich auf ein erhöhtes Schlaganfall- und Herzinfarkt-Risiko hin.
Auch für Menschen mit Gefäßerkrankungen oder mit einer Unterfunktion der Schilddrüse sind 19 Grad zu kalt, sagt Wahl-Wachendorf, darüber hinaus für bestimmte Berufsgruppen. "Das gilt besonders für Fluglotsen oder Menschen an Überwachungsstellen, die stundenlang hochkonzentriert an Monitoren sitzen müssen. Bei Jobs also, bei denen eine starre körperliche Haltung erforderlich ist und sie sich nicht zwischendurch bewegen können."
Frauen bei wärmeren Zimmertemperaturen produktiver
Längst hat in Deutschland der Run zu den Hausärztinnen und Hausärzten begonnen. Atteste sind gefragt, die bescheinigen, dass die Patienten bei der Arbeit eine höhere Bürotemperatur benötigen. Genau genommen entsteht durch die 19 Grad auch ein nicht zu unterschätzender wirtschaftlicher Schaden, weil die niedrige Raumtemperatur ebenfalls einen negativen Einfluss auf die Produktivität und Leistungsfähigkeit hat, und zwar bei etwa der Hälfte der Belegschaft in Deutschland: den Frauen.
"Krieg um den Thermostat?" heißt die Studie von 2019, in Anlehnung an Büro-Diskussionen um die beste Raumtemperatur, durchgeführt übrigens von einem Mann und einer Frau. Die Schlussfolgerung war deutlich: Die Raumtemperatur beeinflusst maßgeblich die kognitiven Leistungen der Geschlechter. Über 500 Probanden brüteten bei Temperaturen zwischen 16 und 33 Grad über kniffligen Mathe- und Sprachtests. Das Resultat: Frauen können bei Wärme besser denken und sind produktiver als bei kälteren Temperaturen. Dass Deutschland Energie spart, ist also für sie, und damit auch für das ganze Land, ein eindeutiger Wettbewerbsnachteil.
"Der Arbeitgeber muss auch im Sinne der Produktivität ein Interesse daran haben, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht unterkühlt sind", sagt Anette Wahl-Wachendorf, "dass der Wohlfühlcharakter zumindest für die meisten gegeben ist. Und sei es mit Decken oder Fußmatten. Für die Arbeitnehmer empfehle ich heißen Früchtetee, Spaziergänge in der Mittagspause und warme Kleidung wie Strickjacken oder zwei Paar Socken."