Die Katastrophe von Pepinster
17. Juli 2021Müllberge soweit das Auge reicht, umgekippte Autos, geborstene Mauern, eingestürzte Hauswände. Nach dem Rückgang der Fluten in Ostbelgien bietet die Kleinstadt Pepinster ein Bild der Verwüstung. Von rund 30 Todesopfern im gesamten Land werden 27 aus dieser Gegend vermeldet, 90 Personen werden noch vermisst. Am Mittag trafen weitere Suchtrupps mit Hunden ein, um manche der eingestürzten Häuser zu durchkämmen.
Von den Fluten mitgerissen
Paul Brasseur hat Tränen in den Augen, als er erzählt, was er in der Nacht vom 14. Juli erlebt hat. "Wir sahen das Wasser steigen und dachten erst wir wären sicher. Dann kam es weiter hoch und wir sind in den zweiten Stock". Aber die Fluten stiegen immer weiter. Die Familie kletterte aufs Dach ihres Hauses und von dort weiter auf die Dächer eines sicher scheinenden Nachbargebäudes, wo sie andere Bewohner fanden, auch Nachbarn mit ihrem Baby.
Es wurde eine lange verzweifelte Nacht. "Ich guckte rüber auf die andere Seite vom Fluss, und sah wie eine Frau ihre Hände zum Gebet gefaltet hatte. Dann stürzten die Mauern ein und sie alle wurden weggerissen". Erst nach neun Stunden wurde die Familie Brasseur von örtlichen Helfern gerettet. Sie wohnt inzwischen im Hotel. Ihr Haus, in dem sie zwanzig Jahre gelebt hatten, ist zerstört. Wie es weiter geht, weiss Paul nicht zu sagen.
Als am Samstag der belgische Premierminister Alexander de Croo den Ort der Katastrophe besucht, nimmt er sich Zeit, mit der Familie Brasseur zu sprechen, die noch immer unter dem Schock ihrer Erlebnisse steht. Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versichert ihr Mitgefühl und verspricht Hilfen aus dem für die Flutopfer aufgelegten EU-Solidaritätsfonds.
Es gab keine Warnung
Pepinster liegt in einem Tal, wo zwei Seitenflüsse der Meuse zusammentreffen. Normalerweise harmlose kleine Wasserläufe, wurden sie durch die Wassermassen, die flussaufwärts auch aus den überlaufenden Talsperren kamen, zu reißenden Fluten. An ihrem Rand steht nichts mehr, kein Baum, keine Absperrmauer, kein Gitter. Und alles ist voller Schlamm und Abfällen. Wo Wasser aus den Seitenstraßen abgepumpt wird, ist es ölig und riecht nach Diesel.
Die Anwohner klagen, dass sie keine Warnung von den Behörden erhalten hatten: "Sie hatten doch die Wetterberichte, warum haben sie uns nicht evakuiert?" Aber auch den Behörden in der Gegend fehlte wohl die Phantasie, sich eine derartige Katastrophe vorzustellen. Zwar war schwerer Regen vorhergesagt, aber seit Menschengedenken gab es hier keine Überschwemmungen. "Es ist ein Zweihundert-Jahres-Ereignis", sagt der belgische Premier. Tatsächlich ist in der Geschichte des Landes nichts Ähnliches bekannt.
Nichts als Berge von Schlamm und Müll
Auf der Hauptstraße steht eine junge Frau vor den Resten ihres Optikerladens. Vor der Tür liegen noch ein paar schlammbedeckte Brillen. "Das Wasser ist bis zur Decke gegangen, es ist nichts übrig, einfach gar nichts", klagt sie. Auch die Friseurin daneben versucht mit einer zu kleinen Schippe den Schlamm aus ihrem Salon zu schaufeln. Die Stühle, die Spiegel, die Haartrockner - alles liegt in einem dreckigen Haufen vor der Tür.
Im Eckhaus ist die ganze Familie gut ausgerüstet zum Schlammschippen angetreten. "Was sollen wir tun, erst muss alles raus. Die Möbel - alles muss weg, dann brauchen wir Wasser zum saubermachen und danach muss alles trocknen. Aber ob das Haus zu retten ist, wissen wir auch noch nicht". Alte Gebäude mit Fachwerk und Lehmwänden müssen wohl völlig neu aufgebaut werden. Aber es gibt einen starken Geist der Solidarität. Von überall aus der Gegend sind Helfer mit Schippen gekommen, mit Thermoskannen voller Kaffee und Sandwiches.
Dazwischen schweres Räumgerät, das am Freitag endlich vor Ort eintraf. Riesige Pumpen, die noch immer Teile der Stadt trockenlegen müssen, Bagger, die Müllberge zusammenschieben, Helfer mit Motorsägen, die angeschwemmte Bäume zerlegen. Mitten in dem Chaos flattert aus dem ersten Stock von Luigis Haus weiter fröhlich eine italienische Fahne: "Vorige Woche konnten wir uns so richtig freuen" - über den Fußball, meint er und grinst breit. "Aber jetzt, das alles ist für den Müll", sagt er und zeigt auf den Berg von Stühlen, Töpfen, Vorhängen und anderem Haushaltsgerät, das schlammverkrustet vor seiner Haustür aufgestapelt ist. "Alles muss weg, in den Müll".
Alle Bewohner hier sind in Notunterkünften in der Region untergebracht. In Pepinster gibt es keinen Strom, kein Trinkwasser, kein Gas und kaum Handyempfang. Auch in den nahen Orten Chaudfontaine, Theux, Verviers, Spa sieht es ähnlich aus. Die Behörden glauben, erst im August werde man wieder eine normale Versorgung haben. Seit Freitag ist auch europäische Solidarität am Werk, Hilfstrupps aus Italien, Frankreich und Österreich sind gekommen, um den überforderten belgischen Hilfskräften unter die Arme zu greifen.
"Zu wenig, zu spät", ist das Urteil vieler Bewohner über den nationalen Katastrophendienst. Aber die politische Abrechnung kommt später, erst muss aufgeräumt und getrauert, der Schock verarbeitet werden. Der Premierminister hat den Nationalfeiertag in der nächsten Woche zum nationalen Gedenktag erklärt: Statt fröhlicher Partys auf den öffentlichen Plätzen wird es bedrückte Ansprachen geben.
Ist der Klimawandel schuld?
Gerade in dieser Woche hatte die EU-Kommission in Brüssel ihr ehrgeiziges Paket von Maßnahmen vorgestellt, mit dem Europa den Folgen des Klimawandels entgegenwirken will. Da ist alles drin, was vielleicht schon ein Jahrzehnt früher hätte passieren müssen: Von Elektrofahrzeugen bis zur Umstellung der Landwirtschaft und einer klimaneutralen Industrieproduktion. Der hohe Kommissionsbeamte Diederich Samson hält die Ereignisse dieser Woche für eine Warnung: "Vor ein paar Jahren haben wir auf einen Punkt in der Zukunft oder irgendwo in der Welt geschaut, wenn wir über Klimawandel geredet haben. Er passiert jetzt und hier".
Im Ort Pepinster lehnt Simone aus dem 2. Stock ihres Hauses und beobachtet die Arbeiten und das Desaster vor ihrer Haustür. Im Erdgeschoss ist alles dreckig und nass, aber sie sitzt da oben trocken. Aber ihre Nachbarin tut ihr leid, die es schlimmer getroffen hat: "Ich will mir ja nicht vorstellen wie es wäre, mit 84 Jahren noch mal von vorne anfangen zu müssen".