Özdemir: "Eine Zäsur für die Türkei"
8. Juni 2015Deutsche Welle: Wie bewerten Sie den Ausgang der Wahlen in der Türkei?
Cem Özdemir: Das ist ein wichtiges Signal, dass die Erdogan-Zeit nicht so weiter geführt wird, dass aus dem Präsidenten nicht eine Art Sultan wird und die türkische parlamentarische Demokratie nicht in ein Präsidialsystem à-la Putin umgewandelt wird. Diese Debatte hat sich mit dem Einzug der HDP ins Parlament am Sonntagabend (07.06.) erledigt.
Ist damit die Richtung, so eine Präsidialdemokratie á-la Putin einzuführen - die "Putinisierung", die immer kritisiert wurde - ein für alle mal erledigt?
Sie ist ja schon weit fortgeschritten gewesen, was den Umgang mit der Presse, mit der Zivilgesellschaft und mit der Justiz angeht. Aber da ist jetzt erst einmal ein kräftiges Stoppsignal aus der türkischen Zivilgesellschaft, aus der Gesellschaft in Richtung Präsidentenpalast gesetzt worden. Und jetzt muss die AKP darüber nachdenken, was es für sie heißt. Sie ist jetzt mit einer schwierigen Regierungsbildung beschäftigt. Denn im Prinzip haben ja alle drei anderen Parteien mehr oder weniger deutlich signalisiert, dass sie eigentlich nicht mit der AKP regieren wollen. Irgendjemand wird es aber tun müssen, wenn man nicht Neuwahlen möchte.
In wieweit sehen Sie da eine Art Regierungskrise kommen?
Das ist jetzt noch zu früh zu sagen, aber eines ist klar: Die Türkei ist nicht mehr die alte Türkei. Mit der HDP hat sich im Parlament eine Kraft gebildet, die sich aus einer pro-kurdischen Partei in Richtung türkische Reformpartei entwickelt - eine Art linksliberale Reformkraft mit Leuten aus den religiösen und aus den ethnischen Minderheiten. Die HDP versucht also, die gesamte Gesellschaft abzubilden. Sie sendet auch ein kräftiges Signal in Richtung Frauen: Von den 80 Abgeordneten sind 32 Frauen. Dazu kommt noch, dass das Thema Ökologie bei der AKP erstmals eine Stimme im Parlament hat. Insofern tut sich da was in der Türkei und ich bin mir sicher, dass wird auch nicht die Wirkung auf die anderen Parteien verfehlen.
Inwieweit dürften sich die Kurden durch den Erfolg der HDP wirklich gestärkt sehen?
Es ist ein klares Signal, dass viele Menschen in der Türkei eine Fortsetzung des Friedensprozesses wünschen und die Verhärtung, für die ja insbesondere Herr Erdogan selber verantwortlich ist, dass das in der Türkei nicht von allen so gesehen und gewünscht wird. Ich hoffe, dass er die Signale hört und dass er die Chancen nutzt, die durch den Einzug der HDP ins Parlament bestehen. Aber auch wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass die HDP nicht nur eine pro-kurdische Partei ist, sondern auch offensichtlich eine Partei, die viele andere in der Türkei, die bislang ausgegrenzt worden sind, abbildet.
Was ich toll finde, und das Kompliment gilt ja nicht nur für die HDP, sondern auch für andere Parteien: Dass nach 54 Jahren erstmals wieder drei Armenier als Abgeordnete in der Türkei vertreten sind. Einer davon ist von der HDP, einer sogar von der AKP und auch von der Republikanischen Volkspartei gibt es einen armenischen Abgeordneten. Zum ersten Mal gibt es einen Abgeordneten, der sich offen als Roma in der Türkei hat wählen lassen, von der GHP aus Izmir. Es gibt einen Assyrer, der von der HDP gewählt wurde und eine Jesidin, die ebenso von der HDP gewählt worden ist. Leider hat es knapp nicht gereicht für den Vertreter der LGBT, also für diejenigen, die sich offen zum schwul und lesbisch sein bekennen. Aber es ist eine Wahl, die eine Zäsur für die Türkei darstellt, alt und neu stehen sich jetzt im Parlament gegenüber.
Es hat in letzter Zeit, weil auch Erdogan mit dem Koran in der Hand aufgetreten ist, immer die Befürchtung gegeben, dass die Türkei in Richtung Islamisierung abdriften könnte. Ist diese Entwicklung mit dem Wahlergebnis jetzt auch verändert oder gar abgebrochen worden?
Man hat gemerkt, dass der Islam hier nur vorgeschoben ist und dass es in Wirklichkeit nur darum geht, dass man die Macht absichert und ein autoritäres Regime etabliert. Herr Erdogan hat ja mit demselben Gesichtsausdruck noch vor einigen Jahren das Gegenteil erzählt: von Reformen, von europäischer Öffnung. Davon ist nicht nur nichts mehr übrig, sondern mittlerweile ist das eben durch nationalistische, durch religiös fundamentalistische Klänge ersetzt worden. Man merkt es auch. Und ich glaube, er hat überzogen und die Quittung hat seine Partei bezahlt.
Cem Özdemir (49) ist seit November 2008 Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen. 1994 war Özdemir der erste Bundestagsabgeordnete mit türkischen Eltern.
Das Interview führte Wolfgang Dick.