Tigray: "Die Armee hat uns angegriffen"
26. Februar 2021Drei Monate sind seit dem Beginn des militärischen Konflikts in der äthiopischen Region Tigray vergangen. Hilfsorganisationen sind weiterhin nicht in der Lage, Teile der Region zu erreichen, die Kommunikation ist unterbrochen, die Informationslage dünn. Äthiopische Oppositionsparteien behaupten, dass seit November mindestens 52.000 Menschen in Tigray gestorben sind. Etwa 60.000 Menschen sind nach Angaben des UN-Flüchtlingswerks aus der umkämpften Region in den Sudan geflohen. Ein Drittel von ihnen sind Kinder.
Finnlands Außenminister Pekka Haavisto, als EU-Sondergesandter mit dem Thema betraut, warnte Anfang der Woche, dass die Krise in Äthiopiens konfliktgeladener Region Tigray "militärisch, menschenrechtlich und humanitär völlig außer Kontrolle" sei. Die äthiopische Regierung müsse dringend vollen humanitären Zugang zu Tigray und den geschätzt sechs Millionen Einwohnern gewähren. Im Dezember kündigte Brüssel an, dass es etwa 90 Millionen Euro (110 Millionen Dollar) an Hilfsgeldern für Äthiopien zurückgehalten würden, unter anderem weil das Land keinen vollen humanitären Zugang zu Tigray gewähre.
"Die Armee hat uns angegriffen"
Unterdessen kommt es offenbar weiter zu Angriffen gegen Zivilisten. Ein Augenzeuge schilderte gegenüber der DW einen Vorfall auf dem Markt der Stadt Temben am 10. Februar 2021: "Auf dem Rückweg griffen uns Soldaten der Äthiopischen Armee an. Einige von uns rannten und entkamen. Doch die meisten von uns starben: In dem Gebiet kamen 41 Menschen ums Leben." Der Augenzeuge, dessen Identität der DW bekannt ist, liegt verletzt im Ayder-Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Mekelle.
Für Medienvertreter ist der Zugang nach Tigray weiter schwierig - dennoch gelang einer DW-Journalistin, sich in Mekelle umzuhören. Ein Anwohner schilderte ihr, was er von der Regierung erwartet: Telekommunikationsverbindungen sollten wiederhergestellt werden, "damit die ausländischen Regierungen wissen, was in Tigray passiert." Desweiteren forderte er die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen durch unabhängige Organisationen. "Außerdem fordern wir die internationale Gemeinschaft, insbesondere den UN-Sicherheitsrat auf, Maßnahmen gegen die äthiopische und eritreische Führung zu ergreifen, die diesen desaströsen und gefährlichen Krieg führen."
Keine Hilfe, keine Informationen
"Wir sind sehr besorgt über die humanitäre Situation in Tigray", sagte Chris Melzer vom UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) Äthiopien der DW. "Wir wissen, dass es Hunderttausende, vielleicht mehr als eine Million Menschen gibt, die Hilfe brauchen." Das UNHCR habe lediglich Zugang zum südlichen Teil der Tigray-Region, und sei dabei, die Kliniken in den Flüchtlingslagern wiederherzustellen. "Wir haben gehört, dass Krankenhäuser im nördlichen Teil von Tigray zerstört oder beschädigt sind oder keine Vorräte haben, um kranken Menschen zu helfen", so Melzer. Zudem sei die Kommunikation zu den Helfern gestört und zum Teil nur über Satellitentelefone möglich.
Premierminister Abiy Ahmed leitete Anfang November 2020 militärische Operationen gegen die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) ein. Auslöser war ein angeblicher Angriff der TPLF auf ein Lager der Bundesarmee. Abiy erklärte den Sieg, nachdem die Regierungstruppen Ende November die regionale Hauptstadt Mekelle eingenommen hatten. Doch kommt es weiter zu Zusammenstößen in der Region.
Millionen von Menschen ohne Schutz
Der Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrates (NRC), Jan Egeland, sagte Anfang Februar: "In all meinen Jahren als Entwicklungshelfer habe ich selten erlebt, dass humanitäre Hilfe so behindert wurde und so lange nicht in der Lage war, so vielen Menschen mit so dringenden Bedürfnissen zu helfen."
Als "katastrophal", beschrieb Fisseha Tekle, Äthiopien-Experte bei Amnesty International, die Situation im DW-Interview: " Die Bewohner von Tigray haben kaum Zugang zu Lebensmitteln, Medikamenten und Finanzdienstleistungen. Plünderungen und die Zerstörung von Ernten und die Tötung Vieh haben die Situation verschlimmert."
In einem Statement betonte die äthiopische Regierung am Mittwoch hingegen, dass internationale und lokale Organisationen 3,1 Millionen Menschen in der Region versorgten. Man begrüße internationale Hilfe, doch die Koordination bleibe eine Aufgabe der Regierung. 29 internationale Organisationen seien aktuell vor Ort.
Eine DW-Korrespondentin konnte in einem Flüchtlingslager für Binnenvertriebene mit einer freiwilligen Helferin sprechen, die schilderte, dass es an allem fehle: "Obdach, Essen, Wasser...". Mütter könnten ihre Babys nicht stillen, weil sie selbst nicht ausreichend Nahrung bekämen. "Ein anderes Problem ist die medizinische Versorgung: In Tigray gibt es keine Medikamente", so die Helferin.
Hinrichtungen, Vergewaltigungen, Plünderungen
Ein weiteres Problem: Im Januar sagte die Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen, Pramila Patten, sie sei "sehr besorgt über ernsthafte Anschuldigungen sexueller Gewalt" in Tigray. Menschen würden gezwungen, Familienmitglieder zu vergewaltigen oder im Austausch für Güter des täglichen Bedarfs Sex mit Mitgliedern des Militärs zu haben.
Überlebende beschuldigen laut Menschenrechtsgruppen regierungsnahe Kräfte, darunter äthiopische und eritreische Truppen sowie Paramilitärs aus der Amhara-Region. Äthiopiens Regierung betonte in ihrem Statement, Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen würden ernst genommen, und mögliche Täter vor Gericht gebracht.
Amnesty: Eritreische Soldaten identifiziert
Auch die Rolle eritreischer Truppen in Tigray bleibt weiterhin strittig. Amnesty International hat nach eigenen Angaben erstmals belegen können, dass eritreische Truppen im November 2020 Hunderte von Zivilisten in der nördlichen Stadt Axum getötet haben sollen. Die Datenlage ist auch mit dem neuen Bericht schwierig, laut Amnesty legen jedoch "überzeugende Indizien nahe, dass Hunderte Einwohnerinnen und Einwohner" getötet worden seien. Es sei zu außergerichtlichen Hinrichtungen, wahllosem Beschuss und Massenplünderungen gekommen, so Tekle.
Zeugen behaupten, Streitkräfte aus dem Nachbarland unter anderem an Fahrzeugen mit eritreischen Nummernschildern, typischer Kleidung der eritreischen Armee identifiziert zu haben. Auch seien ein Dialekt des Tigrinya und rituelle Gesichtsnarben einer ethnischen Gruppe, die beide in Äthiopien nicht vorkommen, aufgefallen. Einzelne Soldaten hätten Anwohnern sogar erzählt, dass sie Eritreer seien. Sowohl Addis Abeba als auch Asmara bestreiten, dass eritreische Truppen überhaupt in den Konflikt verwickelt sind.
"Die Regierung muss diesem Massaker ein Ende setzen", forderte Amnesty-Experte Tekle in Richtung Abiy. "Sie muss sicherstellen, dass alle beteiligten Kräfte, die an der Seite der äthiopischen Armee kämpfen, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen einhalten, egal ob es sich um die Amhara-Polizei, eritreische Truppen oder informelle Milizen handelt. Sie müssen das äthiopische Recht, humanitäre Völker- und Menschenrechte respektieren." Für mögliche Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssten sie zur Rechenschaft gezogen werden. Die EU und die Vereinigten Staaten fordern den sofortigen Abzug eritreischer Truppen.
Mitarbeit: Solomon Muchie
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