Ägyptens Lage am Jahrestag des Umsturzes
11. Februar 2012DW: Hat Ägypten heute bessere Chancen, eine liberale Demokratie zu werden, als vor einem Jahr?
Andrea Teti: Das ist eine Eine-Million-Dollar-Frage. Ich würde sagen, dass es bei dem Aufstand gar nicht um eine liberale Demokratie ging. Im Westen sind wir gewöhnt, bei „Demokratie“ an etwas zu denken, das mit Wahlen, freier Meinungsäußerung und Informationsfreiheit zu tun hat. Für die Ägypter, ganz unabhängig von ihrem Hintergrund, ist das Thema viel breiter. Sie wollten politische Rechte, aber auch soziale Gerechtigkeit. Das Volk will den Sturz des Regimes – also nicht einfach nur den von Hosni Mubarak. Die Herausforderung ist viel größer, als jetzt einfach auf freie und faire Parlamentswahlen umzustellen.
Die Situation in Ägypten ist heute immer noch im Fluß. Es ist immer noch möglich, dass sie sich in Richtung Demokratie bewegt, aber das erfordert ein vorsichtiges Ausbalancieren der Gegebenheiten. Offen gestanden: Was im vergangenen Jahr passiert ist, ist nicht sehr ermutigend.
Mubarak wurde vor einem Jahr gestürzt, aber einige seiner Kumpanen sind immer noch an der Macht. Wie einflussreich sind sie?
Man kann kaum einflussreicher sein als Feldmarschall Tantawi, der unter Mubarak Verteidigungsminister war. Aber es gibt auch andere Figuren. Die Militärjunta ist so etwas wie das Who's Who der Mächtigen unter Mubarak – und ein Beispiel für ein System, das sich seit dem Aufstand gerade an der Spitze kaum verändert hat. Tatsächlich sieht es so aus, als sei das Militär entschlossen, so wenig wie möglich zu verändern und das, was sich seit dem Sturz von Mubarak verändert hat, rückgängig zu machen. Die Frage ist: Will das Militär einfach seine wirtschaftlichen Interessen sichern? Oder glaubt es, dass eine zivile Regierung die roten Linien nicht länger respektieren würde? Will das Militär eine sehr bedeutendere Rolle in der ägyptischen Politik? Die Junta hat sich öffentlich immer zu einem Übergang auf einen zivil regierten Staat bekannt. Aber wenn man sich anschaut, was seit dem Aufstand passiert ist, zum Beispiel mit Blick auf das Notstandsgesetz, die Verfolgung von pro-demokratischen Aktivisten und der Razzia auf unabhängige Gewerkschaften – muss man diesem Bekenntnis gegenüber sehr skeptisch sein. Da sieht die Rolle des Militärs bestenfalls zwiespältig aus.
Welche Gruppen haben in Ägypten zurzeit den größten Einfluss?
Da gibt es das Militär und die Muslimbrüder, die aber keine einheitliche, homogene Organisation sind. Während des Aufstands und auch danach haben wir unterschiedliche Strömungen innerhalb der Muslimbrüder beobachtet, und es gibt einen prominenten islamistischen Kandidaten, der sich offenbar für die Präsidentschaftswahl zur Verfügung stellen will und Mitglied der Muslimbrüder war. Es gibt viele verschiedene Strömungen innerhalb der Muslimbrüder, und eine Spaltung zwischen der älteren und der jüngeren Generation. Es scheint so, als hätten die älteren Mitglieder mehr zu sagen und als seien sie eher bereit, sich mit der Militärjunta zu arrangieren. Außerdem gibt es Salafisten, die bei den jüngsten Wahlen die größte Überraschung waren, weil sie viel mehr Stimmen bekamen, als erwartet.
Es ist einfacher zu sagen, wer am wenigsten Macht hat: die Gruppen, die den Aufstand angeführt haben. Zum Beispiel die liberalen, pro-demokratischen Nichtregierungsorganisationen, die im vergangenen Jahr stark attackiert wurden, beim berüchtigten Angriff auf Gruppen wie das National Democratic Institute, das International Republican Institute und das Freedom House im Dezember. Sie sind von Muslimbrüdern und islamistischen Kräften aufs Abstellgleis geschoben worden. Aber sie sind immer noch mächtig genug, um direkt mit dem Militär über einen Deal zu verhandeln.
Sie haben die schlechte Sicherheitssituation in Ägypten bereits angesprochen. Mit welchen weiteren Problemen ist das Land konfrontiert?
Der Ruf des Volkes nach dem Sturz des Regimes ist, kurz gefasst, die größte Herausforderung für Ägypten. Die Menschen haben den Sturz des Regimes gefordert, nicht nur den Mubaraks, sondern den des gesamten Systems, das die Armen sowohl wirtschaftlich als auch politisch ausgebeutet hat. Es war und ist das Hauptziel, eine inklusive und repräsentative Gesellschaft aufzubauen, sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Um das zu tun, gibt es drei Hauptprobleme: die Reform des Sicherheitssektors, die wirtschaftliche Reform und die politische Repräsentanz.
Die Reform des Sicherheitssektors ist vielleicht der Punkt, der am wenigsten Aufmerksamkeit bekommt, vor allem in der nicht-ägyptischen Presse. Es handelt sich um ein praktisches Problem, das aber tiefe politische Wurzeln und Begleiterscheinungen hat. Vor dem Aufstand hatten die Sicherheitskräfte das Gefühl, sie könnten ungestraft außerhalb des Gesetzes operieren. Sie dehnten es weit aus, um ihre eigenen Interessen zu bedienen. Das hat sich seit Mubaraks Sturz nicht wesentlich verändert. Es gab ein paar Fortschritte, aber die waren alle problematisch, und dann es gab immer Rückschläge. Das ist also eines der wichtigsten Probleme, die gelöst werden müssen.
Die anderen beiden Probleme, also die wirtschaftliche und die politische Reform, kommen häufiger in den Schlagzeilen vor – und sind genauso heikel. Was die Wirtschaft betrifft, wird sich die relative Armut von einem erheblichen Teil der Bevölkerung durch die Liberalisierungsmaßnahmen, wie Mubarak sie verfolgt hat, noch verschlimmern. Zur Zeit des Aufstands wurde davon gesprochen, dass 40 Prozent der Ägypter von weniger als zwei Dollar am Tag leben und 20 Prozent von weniger als einem Dollar pro Tag – das sind Bedingungen, die durch den Liberalisierungsprozess noch verschlimmert wurden. Von "Liberalisierung“ zu sprechen ist gar nicht angemessen, weil das, was wir gesehen haben, eine Art Oligarchie nach russischem Vorbild ist: Das staatliche Vermögen wurde von staatlicher Kontrolle in private Hände übergeben, aber es gab keine wirkliche Liberalisierung.
Politisch gibt es das Problem der Repräsentanz. Die alte politische Klasse hatte keine Glaubwürdigkeit, keine Legitimität, und war extrem korrupt. Das ist eine Herausforderung, der sich die neuen Parlamentsmitglieder stellen müssen – und ein Problem für die Muslimbrüder, weil sie vor einem Dilemma stehen: Der einfache Weg, um an der Macht zu bleiben und die Ziele zu erreichen, die sie seit ihrer Gründung 1928 verfolgen, nämlich an die Macht zu kommen und die Gesellschaft zu islamisieren, ist, sich mit dem Militär auf einen Kompromiss zu einigen. Das Problem ist der hohe Preis: Denn damit begeben sie sich auf dasselbe Level wie das alte Regime. In vier, fünf Jahren, wenn es im besten Fall neue Wahlen gibt, werden die Wähler die Muslimbrüder dafür bezahlen lassen, denn deren wirtschaftliches und politisches Programm und der Kompromiss mit dem Militär sind nicht das, wofür Millionen von Menschen auf die Straße gegangen sind.
Wie kann die Europäische Union Ägypten dabei helfen, diese Probleme zu lösen?
Die EU ist einer der demokratischen Haupthelfer in der Region, vor allem in Ägypten. Theoretisch hat die EU ihre wirtschaftliche Unterstützung und den Handel an Demokratie-Entwicklung und die Einhaltung von Menschenrechten geknüpft – aber das Problem ist, dass diese Bedingungen nie eingefordert wurden. Letztlich führt Hilfe, die mit Demokratie-Zusagen verbunden ist, zu einer Form von Subvention für den entsprechenden Staat. Das muss sich ändern. Brüssel scheint das so langsam zu erkennen, seit März verfolgen sie dort eine neue Strategie. Aber wenn man genau hinschaut, scheinen sich auch die früheren Methoden fortzusetzen. Denn bei den Vorschlägen geht es auch um eine weitere Liberalisierung. Die EU sollte praktisch unterstützen – nicht nur prinzipiell.
Aber dafür gibt es offensichtlich einen Hinderungsgrund: Diese Art der Politik unterscheidet sich fundamental von den Strategien, die Europa in den vergangenen 30 Jahren verfolgt hat. Stellen Sie sich vor, dass Catherine Ashton oder Mario Draghi nach Kairo gingen und eine neue Strategie ankündigten: "Wissen Sie was? Demokratische Aufstände sind der beste Weg, um Demokratie zu erreichen. Dazu gehören eine starke, pluralistische Gesellschaft. Und das bedeutet, starke, unabhängige Gewerkschaften zu haben – und eine gerechtere Verteilung des Reichtums." Können Sie sich vorstellen, was die Reaktionen in Athen, Rom, Madrid oder sogar London wären? Das würde eine totale Umkehrung der bisherigen Politik mit sich bringen, die die europäischen Mitgliedsstaaten verfolgt haben.
Andrea Teti ist Lecturer in Internationalen Beziehungen an der Universität Aberdeen (Großbritannien) und Senior Fellow am European Center for International Affairs.
Das Interview führte Anne Allmeling.
Redaktion: Thomas Latschan