Ägypten: Gaza-Krieg lässt Menschenrechts-Kritik verstummen
23. Oktober 2024Mit Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas ist Kairo zu einer Drehscheibe der internationalen Diplomatie geworden. Dort treffen sich - mit Unterbrechungen - immer wieder amerikanische, katarische und ägyptische Diplomaten, um über einen Waffenstillstand im Gazastreifen und die Freilassung der verbliebenen Geiseln zu verhandeln.
Damit steht Ägypten nach Jahren negativer Schlagzeilen erstmals wieder in einem positiven Licht auf der Bühne der internationalen Politik. Noch bis Ende 2023 hatte Kairo hauptsächlich andere Herausforderungen zu bewältigen: die enormen wirtschaftlichen Probleme, die Kritik an der Menschenrechtslage sowie den Unmut über versäumte politische und rechtsstaatliche Reformen.
Vor allem Präsident Abdel Fattah al-Sisi galt bis dahin vor allem als autokratischer Herrscher. Kritisiert wurde etwa sein hartes Vorgehen gegen Oppositionskandidaten vor den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Dezember. Dieses trug dazu bei, dass er sich eine dritte Amtszeit sichern konnte. Internationale Menschenrechtsorganisationen beziffern die Zahl der politischen Gefangenen in ägyptischen Gefängnissen inzwischen auf mehr als 70.000.
Verstummende Kritik
Doch die internationale Kritik an diesen Zuständen ist in den Hintergrund getreten. "Kairo hat die durch den Angriff der Hamas auf Israel ausgelöste Krise im Nahen Osten erfolgreich genutzt, um seine finanziellen Interessen und seine geopolitische Bedeutung voranzutreiben", sagt Timothy E. Kaldas, stellvertretender Direktor des in Washington ansässigen Tahrir Institute for Middle East Policy, gegenüber der DW.
Zwar scheine das Emirat Katar als Vermittler eine bedeutendere Rolle zu spielen, ergänzt der Politologe Christian Achrainer von der dänischen Universität Roskilde im DW-Gespräch. "Doch Ägypten wird zumindest wieder als einflussreiches Land wahrgenommen."
Politische Erträge
Ägyptens wieder gestiegene Bedeutung im Nahen Osten und Nordafrika habe internationale Kritik an den Menschenrechtsverletzungen verstummen lassen, sagt Achrainer. Dies ermutige Al-Sisi, weiterhin aus politischen Gründen Menschen zu inhaftieren.
Zwar steht die ägyptische Bevölkerung weitgehend auf Seiten der Palästinenser. Doch harsche Kritik am 1979 unterzeichneten ägyptisch-israelischen Friedensvertrag und an der Zusammenarbeit mit Israel oder den USA wird vom ägyptischen Sicherheitsapparat unterdrückt. Öffentliche Kritik existiere quasi nicht, sagt Achrainer.
Ägypten als humanitärer Partner?
Ägyptens gestiegene Bedeutung gründet auch auf dem Umstand, dass der Grenzübergang Rafah im Süden des Gazastreifens der einzige ist, der nicht nach Israel führt. Dadurch ist er zum wichtigsten Zugang für humanitäre Güter in den Gazastreifen geworden.
"Ägypten hat sich zusätzliche Unterstützung aus Washington erarbeitet, indem es gemeinsam mit den Israelis Genehmigungen für die Einfuhr von Gütern in den Gazastreifen erteilt", sagt Experte Kaldas. Dafür werde Ägypten großzügig honoriert. So hat das Weiße Haus dem Land am Nil dieses Jahr die vollständige Militärhilfe in Höhe von 1,3 Milliarden Dollar (1,2 Milliarden Euro) gewährt. "In der Vergangenheit wurde zumindest derjenige Teil zurückgehalten, der an die Einhaltung der Menschenrechte geknüpft war", so Kaldas.
Washington stelle die Zusammenarbeit Ägyptens mit Israel und den USA über die Bürgerechte der Ägypter, so Kaldas: "Außenminister Antony Blinken hat Ägypten erst kürzlich grundlos und völlig unglaubwürdig bescheinigt, in der Frage der politischen Gefangenen und der Rechte und Freiheiten in Ägypten Fortschritte zu machen. Tatsächlich steht es um sie deutlich schlechter als noch vor einiger Zeit."
Beobachter sind sich einig, dass der ägyptische Staat in diesen Tagen mehr Menschen inhaftiert als freilässt. Präsident Al-Sisi habe die Kriege in Gaza und im Libanon genutzt, sich als wichtiger Vermittler in dem Konflikt zu positionieren, sagt auch Sarah Whitson, Geschäftsführerin der in Washington ansässigen Menschenrechtsorganisation DAWN, gegenüber der DW. "Tatsächlich aber geht es nur darum, von der katastrophalen Menschenrechtsbilanz und tiefgreifenden staatlichen Korruption abzulenken."
So etwa bleibt einer der bekanntesten Gefangenen des Landes, der 42-jährige britisch-ägyptische Schriftsteller und Aktivist Alaa Abdel Fattah, weiterhin in Haft, obwohl er Ende September 2019 zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde und demnach nun freikommen müsste.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer für Abdel Fattah und Tausende anderer inhaftierter Journalisten, Politiker und Dissidenten könnte nun der bevorstehende UN-Menschenrechtsrat in Genf sein. Vor diesem Gremium soll Ägypten im Januar 2025 zeigen, inwieweit es sich für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte einsetzt.
Andauernde Wirtschaftsprobleme
Von den mehr als 57 Milliarden Dollar, die die Weltbank, die EU und die Golfstaaten in diesem Jahr in Ägypten investiert oder dem Land gewährt haben, ist bei der weitgehend verarmten Bevölkerung kaum etwas angekommen. Die Inflation liegt nach wie vor bei rund 26 Prozent. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind um mehr als 70 Prozent gestiegen. Besonders hart trifft dies rund ein Drittel der 113 Millionen Ägypter, die nach jahrelangen Wirtschaftskrisen nahe bei oder sogar unterhalb der Armutsgrenze leben.
Mit Hilfe regionaler Akteure könnte sich jedoch eine wirtschaftliche Entlastung abzeichnen. Im Oktober hatten hochrangige Beamte aus mehreren Ländern dem Land einen Besuch abgestattet. So war kürzlich der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman in Kairo zu Gast, um mit al-Sisi über künftige Investitionen und Handelsabkommen zu sprechen. Ebenfalls erst kürzlich reiste auch der iranische Außenminister Abbas Araqchi zu Gesprächen mit seinem ägyptischen Amtskollegen Badr Abdelatty nach Kairo. Das letzte Treffen zwischen iranischen und ägyptischen Außenministern hatte 2013 stattgefunden.
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.