Zwischen Himmel und Hölle
10. März 2016Joseph Blatter war wie ausradiert. Kein Foto, kein Videoeinspieler sollte beim FIFA-Wahlkongress an den gesperrten Präsidenten erinnern. Direkt nach der Wahl von Gianni Infantino zum neuen Präsidenten des Fußball-Weltverbandes meldete sich der 80-jährige Schweizer jedoch mit warmen Worten: Infantino sei ein "würdiger Nachfolger". Der neue FIFA-Chef habe "alle Qualitäten, meine Arbeit fortzusetzen und die FIFA wieder zu stabilisieren", erklärte der von der FIFA-Ethikkommission für sechs Jahre suspendierte Blatter, nur um kurz darauf in einem Geburtstagsinterview mit der schweizer Zeitung "Blick" doch noch eine Spitze abzufeuern: "Man sollte bei 32 Mannschaften an einer WM bleiben. Das System hat sich bewährt". Die Ausweitung ist eines von Infantinos Wahlversprechen.
Blatter habe die Versammlung der FIFA-Nationen ganz genau verfolgt, berichteten Vertraute. Vor allem in den Köpfen zahlreicher Mitglieder der selbst ernannten Fußball-Familie ist der Schweizer weiter präsent. "Ich wage die Vorhersage, dass Herr Blatter die Wahl gewinnen würde, wenn er antreten würde", sagte Englands Verbandschef Greg Dyke vor dem Votum für Infantino. Keine allzu mutige Prognose. Gerade die fußballerischen Entwicklungsländer, die sich stets über finanzielle Unterstützung von Projekten freuten, stehen Blatter immer noch in Nibelungentreue zur Seite.
"Ich werde immer ein Präsident sein"
Trotz aller weiter bestehenden Nähe schloss er zumindest öffentlich eine Rückkehr in den Fußball aus. "Genug ist genug", sagte Blatter der "New York Times". "Ich werde immer ein Präsident sein." Das ist sein Selbstverständnis. Auf die Demütigung durch seine Supendierung folgten gesundheitliche Probleme inklusive Intensivstation. Inzwischen sagt Blatter wieder: "Es geht mir sehr gut", so Blatter, der sich mit der Zahl 80 gar nicht recht anfreunden mag. "Im Lebenskalender fühle ich mich viel jünger."
Nachdem die Berufungskommission des Fußball-Weltverbands seine Sperre um zwei Jahre verringert hatte, könnte er allerdings theoretisch eine aktive Rolle bei der WM 2022 in Katar übernehmen. "Dieser Bann von sechs Jahren, acht Jahren, 20 Jahren - was immer es ist, er wird nicht vom Tribunal aufrechterhalten bleiben", sagte Blatter. "In dem Urteil wird Bestechung und Korruption ausgeschlossen, was bleibt noch, wenn es keine Bestechung und Korruption gab? Das ist nicht logisch."
Eine Aussage, ganz so, als würde es Artikel 13 (generelle Verhaltensregeln), Artikel 15 (Loyalität), Artikel 19 (Interessenskonflikt) und Artikel 20 (Angebot und Annahme von Geschenken und anderen Vorteilen) des FIFA-Ethikcodes nicht geben.
Wie alles begann
Mit 39 Jahren begann seine Karriere als Fußballfunktionär. Der damalige FIFA-Präsident Joao Havelange holte Blatter zum Weltverband. Als Direktor für Entwicklungsprogramme war er unter anderem für die Junioren-Weltmeisterschaften zuständig. Protegiert wurde Blatter von Horst Dassler (1936 bis 1987), dem früheren Chef des deutschen Sportartikelherstellers Adidas. Einige Monate lang soll der Schweizer sogar aus der Kasse des Konzerns bezahlt worden sein, Dassler stellte Blatter auch ein Büro im Elsass zur Verfügung.
Der deutsche Industrielle soll bei der FIFA auch die entscheidenden Strippen gezogen haben, als Blatter 1981 zum Generalsekretär aufstieg und damit den zweithöchsten Posten des Fußball-Weltverbands übernahm. Der Schweizer vermarktete fortan die Fernsehrechte bei Weltmeisterschaften und hielt Kontakt zu den Sponsoren. Außerdem wirkte er an einigen Regeländerungen mit, etwa der Einführung der Drei-Punkte-Regel. Blatter galt als kompetent und kommunikativ.
"Entwicklungshilfe" und "Provision"
1998 schließlich hatte er es ganz nach oben geschafft. Bei der Wahl um die Nachfolge von FIFA-Chef Havelange setzte sich Blatter gegen UEFA-Präsident Lennart Johansson aus Schweden durch. Hartnäckig hält sich die Behauptung, der Schweizer hätte sich Stimmen afrikanischer Delegierter mit einer Million US-Dollar erkauft. Blatter wies den Vorwurf zurück und sprach von "Entwicklungshilfe". Seitdem hat sich der FIFA-Präsident als äußerst skandalfest erwiesen. Egal wie hoch die Wogen schlugen, Blatter kam ungeschoren davon. Skandale gab es ausreichend. Der für den FIFA-Chef vielleicht kritischste war jener um den FIFA-Marketingpartner ISL, der Schmiergelder an Fußballfunktionäre gezahlt hatte. Das war gerichtsfest - auch, dass Blatter als Generalsekretär von den Zahlungen gewusst hatte. Er selbst sprach von "Provisionen". Die FIFA kaufte sich schließlich 2010 gegen eine Millionensumme aus dem Verfahren frei und erklärte Blatter für unschuldig.
Bei seiner dritten Wiederwahl im Jahr 2011 profitierte der Chef von der Korruption im eigenen Verband. Sein Gegenkandidat Mohamed bin Hammam zog seine Bewerbung zurück, als bekannt wurde, dass er versucht hatte, Delegierte aus der Karibik zu bestechen. Blatter habe davon gewusst, behauptete der Katarer. Die FIFA-Ethikkommission sprach den Präsidenten jedoch frei. "Krise? Was ist eine Krise? Die Fifa befindet sich in keiner Krise. Wir haben lediglich Schwierigkeiten", sagte Blatter damals. Auch die Diskussionen um die Doppelvergabe der Weltmeisterschaften 2018 und 2022 überstand Blatter dank seiner Ethikkommission. Die sah im Gegensatz zu FIFA-Chefermittler Michael Garcia keine Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe der WM 2018 an Russland und 2022 an Katar.
Treue Anhänger
Viele fragten sich, warum es Blatter immer wieder gelungen ist, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Blatter wußte, wie Macht funktioniert und wie man an der Macht bleibt. Kritik von außen lächelte er weg, Aufstände im eigenen Lager schlug er nieder, Konkurrenten entmachtete er, Probleme saß er aus. Das alles konnte der FIFA-Präsident, weil er sich beinahe blind auf seine Gefolgschaft verlassen konnte. Blatter wußte die Funktionäre aus Asien, Afrika und Lateinamerika hinter sich. Seit 17 Jahren pflegte er die Verbindungen dorthin nach dem Prinzip "Geben und Nehmen".
"Ich bin der Präsident derjenigen, die mehr Mühe hatten, im internationalen Konzert mitzuspielen", sagte Blatter einmal in einem Interview. "Also wenn man so will, bin ich der Präsident der Kleinen." In vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas wird Blatter wie ein "Fußball-Messias" verehrt, der sich nicht nur für die dortigen Verbände eingesetzt hat, sondern ihnen auch Geld zukommen ließ - ob als "Entwicklungshilfe" oder aus anderen Gründen, sei dahingestellt. Blatter wurde nicht müde zu verkünden, dass er sich auf einer Mission befinde: "Die Fifa ist durch die positiven Emotionen, die der Fußball auslöst, einflussreicher als jedes Land der Erde und jede Religion."
Immer ist Blatter weit, weit oben an der Spitze gewesen. Kaum einer wandelte so kunstvoll auf dem schmalen Grat zwischen Verachtung und Bewunderung, zwischen Himmel und Hölle. Verglichen wurde er mal mit Jesus Christus, mal mit dem Teufel höchstpersönlich. Jetzt ist der "ewige" FIFA-Boss gestürzt - durch eine Ethikkommission, deren Gründung er selbst auf den Weg gebracht hatte. Die Geister, die er rief, haben jetzt den Schlussstrich gezogen.
jhr/ck (sid/dpa)