Das Dorf als Gericht
14. April 2009Ich bin in einem Dorf eine halbe Stunde außerhalb von Kigali. Die kleine Ortschaft liegt idyllisch auf einem der vielen grünen Hügel des kleinen Landes. Jetzt am Morgen machen sich die Bewohner langsam auf den Weg zu ihren Feldern, am Dorfeingang bauen Arbeiter an einem Tagungshotel für Gäste aus der Hauptstadt.
Ich sitze seit Stunden vor dem Versammlungshaus des kleinen Dorfes. Hier soll heute eine Gerichtsverhandlung über zwei bereits verurteilte Mörder stattfinden. Die Laienrichter sollen nur das Strafmaß neu festlegen. In diesem Fall waren die Angehörigen der Opfer in Berufung gegangen.
Gacacas gegen Rachegefühle
Rund 10.000 Gacaca-Gerichte übernehmen zurzeit in Ruanda einen großen Teil der Genozid-Verfahren. Seit 2002 entlasten die Gacacas damit die nationalen Gerichte. Auf der Gemeindeebene habe das dazu geführt, dass die Leute nicht zur Selbstjustiz gegriffen hätten, sagt der Politologe Salvator Nkurunziza. Er war als Berater an der Gründung der Dorfgerichtshöfe beteiligt. "Die Gacacas haben nicht nur für Gerechtigkeit gesorgt, sondern auch geholfen, zukünftige Konflikte zu verhindern", sagt Nkurunziza.
Vertagt...
Ein LKW fährt vor und zwei Männer in rosa Hemden und Bermudas springen von der Ladefläche – die Gefangenen. Innerhalb von Minuten kommen immer mehr Leute aus dem Dorf angelaufen. Aber sie kommen nicht zum Zuschauen, sondern sie umarmen die beiden Männer und unterhalten sich mit ihnen. Es sind die Familien und Freunde der beiden, erklärt mir mein Übersetzer. Das Warten geht weiter. Die beiden Männer sitzen im Schatten und sprechen leise miteinander. Ein gelangweilter Polizist bewacht sie. Nichts passiert. Dann die Nachricht: Der Prozess fällt aus, weil nicht genug Richter gefunden werden konnten. Mindestens fünf und höchstens zehn der Laienrichter müssen bei einem Prozess anwesend sein.
Wirre Aussagen statt Wahrheitsfindung
Ein paar hundert Meter weiter verhandelt ein Gacaca noch über zwei weitere Täter. Drei Männer und drei Frauen sitzen hier hinter einem langen Tisch in dem kleinen dunklen Raum. Schärpen in den ruandischen Nationalfarben kennzeichnen ihre Funktion als Richter. Auf gestapelten Baumstämmen drängen sich die Prozessbesucher aus dem Dorf. Viele müssen stehen, eine Frau kauert auf dem Boden und stillt ihr Baby. Der Prozess beginnt mit einer Schweigeminute für die vielen Opfer, dann verliest der vorsitzende Richter die Prozessregeln. Die Angeklagten sitzen eine Armlänge von mir entfernt direkt vor den Richtern. Sie sollen ein junges Mädchen getötet haben. Gegen ihre Strafe von 27 Jahren haben sie Berufung eingelegt. Beide behaupten, unschuldig zu sein und beschuldigen gleichzeitig einige der anwesenden Zeugen.
Auch die aufgerufenen Zeugen geben allen möglichen Leuten die Schuld am Tod des Mädchens. Keine Aussage passt zur nächsten. Dabei war bei der Gründung der Gacacas gerade die Wahrheitsfindung ein ganz zentraler Punkt. "Meine Hoffnung war, dass die lokale Bevölkerung – ob Opfer oder Leute, die am Genozid beteiligt waren - sich eines Tages die Wahrheit sagen kann. Ich habe gehofft, dass sich alle versöhnen können und wieder zusammen leben können, um Ruanda wieder aufzubauen“, sagt Nkurunziza.
"Die Gacacas tragen zur Versöhnung bei, weil hier die Opfer-Familien auf der einen Seite und die Täter auf der anderen Seite zusammenkommen. Die Überlebenden nehmen die Entschuldigung der Täter an. Und so schaffen wir es, uns zu versöhnen und zu vergeben", sagt Celine. Sie ist eine der insgesamt mehr als 250.000 Laienrichter im Land. Sie glaubt, dass die Gacacas ein wichtiges Instrument der ruandischen Versöhnungspolitik sind. Die Überlebenden seien oft erleichtert, im Prozess zu erfahren, wie ihre Familien umgebracht wurden, sagt die Richterin.
Schwere Wahrheit
Bei dem Prozess heute wird der anwesende Onkel des getöteten Mädchens vermutlich nie erfahren, was genau mit seiner Nichte passiert ist. Zu verworren waren die Aussagen. Die Richter beschließen, die ursprüngliche Strafe von 27 Jahren auf 12 Jahre Gefängnis zu vermindern. Auch Salvator Nkurunziza hat schon als Betroffener an einem Prozess teilgenommen – seine Familie wurde im Genozid getötet. Damals haben die Täter alles gestanden. Salvator fällt es schwer, über den Prozesstag zu sprechen. Es sei sehr emotional gewesen, sagt er. "Ich konnte nicht bis zum Ende durchhalten. Als sie angefangen haben zu reden und als sie gesagt haben, in welchem Ausmaß, mit welcher Gewalt und wie sie getötet haben, war das zu viel für mich." Am Ende hätten alle - Opfer und Täter - geweint, erzählt er. "Die Angeklagten konnten nur noch 'Pardon, Pardon, Pardon' sagen. Ich konnte nicht mehr, ich bin gegangen, weil es zu viel war, einen einfachen Dorfbewohner auf dem Hügel zu sehen, der Dir sagt, ich habe Dich betrogen und ich bitte Dich um Verzeihung. Dann aber habe ich mich gefragt, bin ich bereit zu vergeben? Und ich habe gesagt, ja ich bin bereit zu vergeben."